Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria
científica
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No. 87 (2004: 1)
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© Foto: H. Hülskath, 2002 Archiv A.B.E.-I.S.M.P.S. |
MEMORIA UND MUSIK IN DER METHODIK DER KULTURUMFORMUNG -
ZUR MENTALITÄTSGESCHICHTLICHEN REKONSTRUKTION DER ERSTEN ZEITEN:
JOSÉ DE ANCHIETA S.J.
Antonio Alexande Bispo
In engem Zusammenhang mit dem Musikunterricht in den Missionsschulen
der Jesuiten muß bei einer Rekonstruktion der Mentalitätsgeschichte
der ersten Zeiten der Geschichte Brasiliens die Entwicklung des
Schultheaters gesehen werden. Hiermit verbindet sich in besonderer
Weise der Name von P. José de Anchieta (1534-1597). Die Rolle
der Musik, der Dichtkunst und der dramatischen Darstellungen in
der Missionsarbeit von Anchieta wurde bereits in zahlreichen Publikationen
behandelt und in Kongressen unter verschiedenen Perspektiven diskutiert.
Dennoch muß sie in einem adäquaten Kontext betrachtet werden:
innerhalb der Geschichte der Gesellschaft Jesu in ihren ersten
Jahrzehnten und der immer wieder ausbrechenden Konflikte zwischen
ihren Grundauffassungen und der durch die Umstände bedingten Praxis
der missionarischen Arbeit.
Als Anchieta im Dezember 1553 in São Vicente landete und kurze
Zeit danach P. Manoel da Nóbrega bei der Gründung des Kollegs
von São Paulo beistand, traf er eine Situation an, die bereits
von früheren Erfahrungen und Diskussionen über den Einsatz der
Musik und des Tanzes in der Mission geprägt war. Auch hier mußte
er sich mit der besonderen Rolle, die dem Kindergesang und -spiel
zukam, auseinandersetzen. Als Beispiel hierfür kann der "Tanz
der indianischen Kinder" angesehen werden, dessen überlieferten
Textteile Anchieta zugeschrieben werden. Wie Anchieta selbst gerührt
hervorhebt, benahmen sich die indianischen Knaben wie kleine Portugiesen
trotz allen Schmucks und aller Attribute, die auf die einheimische
Kultur verwiesen. Dazu zählten auch Musikinstrumente, obwohl sie
bereits europäische Volksmusikinstrumente gelernt hatten, nämlich
die "viola", die sie mit Trommelbegleitung spielten.
Aus dieser Aussage wird ersichtlich, daß die aus pragmatischen
Gründen entstandene Praxis des Musizierens, Tanzes und Spielens
- in der kultfreien Zeit der Sonn- und Feiertage - mit indianischen
Elementen allmählich die Missionare auch zu einer Rechtfertigung
zwang, die sie zwangsläufig vom Sprachhaften zum Zeichenhaften
führte.
Auch Anchieta hatte letztlich ein anderes Vorstellungsideal von
einem geistig geprägten Leben, das auch in der Missionssituation
als Zielsetzung beibehalten werden sollte. Dieses Idealbild entsprach
der von der Stille und Einkehr geprägten Atmosphäre, die er im
Kolleg von Coimbra erlebt hatte. So schrieb er an P. Ignacio von
Loyola am 1. September 1554, daß der Alltag im Kolleg von São
Paulo eine strenge Disziplin beachtete: vor dem Unterricht sangen
die Kinder die Litanei, und der Tag wurde mit dem Gesang der Salve
Regina beendet. Freitags wurden die Bußprozessionen abgehalten,
während derer sich die Knaben geißelten. Bald jedoch stellte der
Missionar fest, daß es praktisch unmöglich war, die Indianer von
den Trinkgelagen mit Gesang fernzuhalten, in die sie immer wieder
verfielen. Aus diesem Grund, sah er als unabdingbar an, daß die
Missionare alle Mittel anwendeten, um die Indianer für sie zu
gewinnen.
In São Vicente hat man sogar versucht, den Indianern zu verbieten,
die Kirche zu betreten, wenn sie an den traditionellen Festen
teilnahmen. Am 1. Januar 1555 wurde schließlich ein kolletiver
Bußakt verrichtet, bei dem die Kinder Litaneien sangen, während
sich die Gläubigen geißelten.
Auch das Wirken und Werk von Anchieta muß demnach in diesem Spannungsverhältnis
zwischen dem Ideal der Stille und den pragmatischen Zwängen des
Augenblickes, die Musik und Tanz verlangten, gesehen werden. Da
auch er zu der Überzeugung gelangte, daß alle Mittel recht waren,
um das Ziel zu erreichen, verwendete auch er in seiner Missionsarbeit
die einheimische Sprache als Übersetzung oder für neu verfaßte
geistliche Lieder, die den Kindern beigebracht wurden, damit sie
sie außerhalb des Kultes und des Unterrichts in der Freizeit und
zu Hause auswendig singen konnten. Die Bedeutung Anchietas liegt
jedoch vor allem darin, daß er offenbar erkannt hatte, daß die
Einprägung geistlicher Inhalte mit Schulmethoden - die vor allem
auf dem Auswendiglernen basierten - mit Mitteln des Schultheaters
verstärkt werden konnte. Auch hier jedoch sah er sich gezwungen,
Auffassungen, Ausdrucksmittel und Gestalten der Kulturtraditionen
der Indianer in die zu vermittelnden Stoffe und Handlungen miteinzubeziehen,
die aus einer für die Indianer ganz fremden und fernen Welt kamen.
So erklärt es sich, daß Gestalten und Vorgänge, die für die Kirchen-
und Kulturgeschichte des Abendlandes von Bedeutung sind, mit indianischen
Elementen in Verbindung gebracht wurden, so daß indianische Namen
zusammen mit mythologischen Gestalten und Persönlichkeiten der
Antike in den Texten Anchietas vermengt erscheinen.
Dadurch aber näherte sich Anchieta vom Schultheater aus der alten
Verfahrensweise, die in den Spielen und Festbräuchen des Mittelalters
zum Ausdruck kam, die er sicherlich in seiner Kindheit und Jugend
kennengelernt hatte und die unter den Portugiesen in Brasilien
praktiziert wurden. Von einem ganz anderen Weg kommend trug damit
Anchieta zur Integration der Indianer in die europäischen Spiele
des katholischen Brauchtums der Europäer bei.
Die Technik der Schauspiele von Anchieta ist eindeutig erkennbar.
Wie bei den abendländischen traditionellen Spielen erscheinen
in ihnen die Indianer nur als Typen, d.h. als komische, groteske,
lächerliche Gestalten. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden,
daß für die Getauften und die durch die Buße Geläuterten der alte,
irdische, sinnenhafte Mensch überwunden ist. So wurde auch die
frühere Kritik des Bischofs Bahias, die Verwendung von Elementen
der Indianerkulturen trüge dazu bei, den Wert der eigenen Kultur
bei den Indianern zu verstärken und dadurch die Christianisierung
zu behindern, gegenstandslos. Die alte Kultur wurde zwar in die
Spiele und Schauspiele integriert, aber negativiert, d.h. entwertet
als Ausdruck der überwundenen oder zu überwindenden Welt.
Das Werk von Anchieta bezeugt einerseits die Verpflanzung von
iberischen Festbräuchen der wichtigsten Zeiten des Kirchenjahres
nach Brasilien.Wie in Europa wurde auch bei den Indianern Weihnachten
und Epiphanie zur Zeit des reichhaltigsten Brauchtums mit symbolischen
Darstellungen. Die Vorbereitungszeit des Advents diente dazu,
die Sinne auf die Notwendigkeit der geistigen Vorbereitung durch
Fasten und Bußübungen zu richten, um die Sündhaftigkeit des sinnenhaften
Menschentums zu überwinden, die dann in der Zeit zwischen Weihnachten
und Epiphanie in Spielen dargestellt wurde.
Ein Beispiel für den Gebrauch europäischer Traditionen der Epiphanie
in angepaßter Weise bei den Indianern São Paulos ist der Tanz
der Heiligen Drei Könige, der von Anchieta zweisprachig mit Texten
auf tupi und portugiesisch verfaßt wurde. Dem Text ist zu entnehmen,
daß hier die indianischen Knaben den Weg der Magier aus dem Orient
darstellten, so daß anzunehmen ist, daß sie wie bei den entsprechenden
Praktiken in Europa als Sternensänger von Haus zu Haus zogen.
In diesem Brauch kommt demnach zum Ausdruck, daß die theologische
Begründung der Beziehung von Missionstätigkeit zu den Heiligen
Drei Königen, die bereits erwähnt wurde, auch beim Rückgriff auf
spielerische Erscheinungsformen des alten Volksbrauchtums in Europa
im Vordergrund stand.
Die typologische Denkweise und die damit verbundene musikalisch
relevante Bildersprache war Anchieta geläufig. So wies er auf
den Körper als Psalterium und auf die Saiten des Herzens hin.
Für ihn war die Jungfrau Maria das göttliche Musikinstrument,
aus dem zum ersten Mal das Loblied und der Kontrapunkt erklungen
sind. Er verglich einen Bruder, Manoel Álvares, der als Mitglied
der Expedition von P. Inácio de Azevedo das Martyrium erlitten
und noch im Sterben seinen Glauben laut verkündigt hatte, mit
einer Trommel. Auch hier griff Anchieta auf alte, auf der iberischen
Halbinsel geläufige Symbolsprache der Musikinstrumente zurück.
Auch die Flöten zum Gesang der indianischen Kinder beim Empfang
von P. Costa können und müssen im metaphorischen Sinn gedeutet
werden.
Aus dem Repertoire der Tänze und Spiele des katholischen Brauchtums,
die nach Brasilien verpflanzt wurden, müssen die Darstellungen
von Kämpfen und Schlachten hervorgehoben werden, die sich auf
den Kampf im Inneren des Menschen beziehen. Sie deuten auf den
vom hl. Paulus erläuterten inneren Vorgang der Verbindung mit
dem Fleisch oder mit dem Geist hin, was sich in den Werken des
Fleisches und in den Früchten des Geistes äußerlich manifestiert.
Zu diesen Spielen und Tänzen gehörten die sog. Machatins der iberischen
Halbinsel, die den Indianern beigebracht wurden, wie aus dem Text
von Anchieta zu den Festen der Assunção in Reretiba zu entnehmen
ist. In diesem Kontext traditioneller Darstellungen von Schlachten
können auch die Texte gesehen werden, die sich auf den hl. Mauritius
als Schutzpatron von Vitoria beziehen. Dieser Märtyrer (280/300)
war der Primicerius der Thebanischen Legion, und sein Kult wurde
vor allem bei Ritterorden gepflegt. Er galt dementsprechend als
Schutzpatron von Soldaten und Schmieden und wird häufig in Begleitung
eines Schwarzen dargestellt.
Auf diese Weise ermöglichte auch die Darstellungen von Typen als
Hindeutung auf die Anti-Typen die Einübung der Indianer in die
neuen Autoritätsstrukturen der sich bildenden Gesellschaft. Sie
wurden nämlich mit den Attributen dargestellt, die in negativer
Weise auf die erwähnten Berufe hinweisen, um die Vorbildlichkeit
des hl. Mauritius deutlich hervortreten zu lassen. Auf diesen
Kontext und auf die Darstellungen des hl. Mauritius scheint auch
die Erscheinung von Indianern als Schwarze - mit geschwärzten
Gesichtern - bei den Spielen hinzuweisen. In dieser Technik der
typologischen Darstellungsweise der Spiele liegt demnach die Erklärung
für viele Erscheinungsweisen bisheriger Volkstraditionen, die
Indianisches mit Afrikanischem vermischen und irrtürmlicherweise
als afrikanischen Ursprungs gedeutet werden.
Zusammen mit den Spielen und anderen Festpraktiken der iberischen
Halbinsel wurden den Indianern auch Volkslieder geistlichen Inhalts
aus Spanien und Portugal vermittelt. Ein Beispiel hierfür findet
sich im Stück "O Pelote Domingueiro", das wahrscheinlich für die
Feste des 1. Januars entstanden ist. In einer volkstümlichen Sprache
wird den Indianern die Grundlage des typologischen Denkens vermittelt:
der Mensch, der Sohn Adams ist, der nach irdischen Gütern strebt,
nimmt alle Arten von Arbeiten und Mühen auf sich und wird alles
verlieren; der Christ jedoch folgt dem zweiten Adam, nämlich Christus,
der der wahrhafte "Kapitän" im Kampf des Lebens ist. Wie hier
ausdrücklich formuliert wird, stellt die Gegenüberstellung Adam/Christus
und Eva/Maria die Grundlage des typologischen Denkens dar, das
die Praxis der dramatischen Spielen bei den Indianern rechtfertigte.
Diese Gegenüberstellung ist eng mit Musikanschauungen und musikalischen
Bildern verbunden, wie Anchieta selbst in "Prima" besingt: Durch
Eva, die erste, die von Gott den Takt erhielt, wurde das Lied
verstimmt.Es wurde aber gut konzertiert durch den jungfräulichen
Tenor der Mutter des (guten) Hirten.
Diese besondere Gewichtung der hermeneutischen Sichtweise war
demnach auch in der Missionsarbeit bei den Indianern durch das
auf die Verständlichkeit der Textaussagen abzielende neue Religionsverständnis,
dem auch die Jesuiten verpflichtet waren, nicht überwunden worden.
Sie war im Gegenteil aus pragmatischen Erwägungen die wirksamste
Verfahrensweise zur Gestaltung der Freizeit an Sonn- und Feiertagen,
damit die Indianer nicht in ihre herkömmlichen Trinkgelage mit
Musik und Tanz verfielen.
Die Bedeutung der Präfigurationen der Kirche in den Darstellungen
von Anchieta - wie die der Arche Noah - kann z.B. dem Inhalt eines
Briefes der Gesellschaft Jesu an den seraphischen hl. Franziskus
entnommen werden. Die Spannung zwischen Typen und Anti-Typen entsprach
derjenigen zwischen dem Alten und Neuen Bund, wie Anchieta besingt:
der Sünder und der Knabe, indem sie die Figuren des Alten Testaments
zum Ausdruck bringen, deuten darauf hin, daß das Neue Testament
die Erfüllung aller Schriften ist.
Es ist demnach bemerkenswert, daß die Jesuiten aufgrund der Umstände
und der praktischen Zwänge auf einem anderen Weg und auf der Grundlage
ganz anderer Auffassungen offenbar zu Verfahrensweisen fanden
und letztlich zu einer Geistigkeit, die seit langem von den Franziskanern
vorgelebt worden war.
Musik, Projekte und Perspektiven. A.A. Bispo u. H. Hülskath (Hgg.).
In: Anais de Ciência Musical - Akademie Brasil-Europa für Kultur-
und Wissenschaftswissenschaft. Köln: I.S.M.P.S. e.V., 2003.
(376 páginas/Seiten, só em alemão/nur auf deutsch)
ISBN 3-934520-03-0
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