Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria
científica
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No. 87 (2004: 1)
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© Foto: H. Hülskath, 2002 Archiv A.B.E.-I.S.M.P.S. |
ERNEUERUNGSDYNAMIK VON MUSIK- UND KULTURWISSENSCHAFT AUS INTERNATIONALEN
VERNETZUNGEN UND SOLIDARITÄTEN:
ZUR NOVA MUSICOLOGIA/NEW MUSICOLOGY/MUSICOLOGIE NOUVELLE
Aus dem Vortrag im Rat der Stadt Guarujá
Antonio Alexandre Bispo
Bislang fehlen den Studierenden der Musikwissenschaft im deutschsprachigen
Raum ausreichende Informations- und Diskussionsmaterialien über
aktuelle, grenzüberschreitende Projekte und Konzepte, die anhand
konkreter Beispiele Ansätze und Orientierungshilfen für fundierte
Auseinandersetzungen mit einer Geschichtswissenschaft der Musik
bieten, wie sie sich in den letzten dreißig Jahren immer mehr
wissenschaftstheoretisch und methodologisch erneuert. Diese Regenerierung
des Faches, die sich stürmisch vollzieht, verlangt die Berücksichtigung
aus musikwissenschaftlicher Sicht von Themenkomplexen, die fachübergreifend
sind und deren Erforschung und Analyse selbstverständlich voraussetzt,
daß eurozentrische Einschränkungen der Perspektiven aufgegeben
werden.
Reflexionen und Debatten in musikwissenschaftlichen Seminaren
deutscher Universitäten, die sich Fragen einer Musikgeschichte
in globalen Zusammenhängen unter Beachtung rezenter wissenschaftstheoretischer
Entwicklungen der Kulturwissenschaft widmen, müssen sich fast
ausschließlich auf die Rezeption nordamerikanischer Publikationen
stützen. Ausgangspunkt der in diesen Vorlesungen und Kolloquien
reflektierten Entwicklung des musikgeschichtlichen Denkens, die
im allgemeinen dem Stichwort "New Musicology/Nova Musicologia/Musicologie
Nouvelle" subsumiert wird, war allerdings eine Bewegung, die in
den sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Brasilien zur Gründung
eines Zentrums für Musikforschung im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen
Organisation für die Analyse soziokultureller Diffusionsprozesse
führte, die auch die theoretisch reflektierte, partizipative Aktion
in der Dynamik des Kulturwandels förderte.
Diese Bewegung, die sich keinesfalls allein auf lokale, regionale
oder nationale Problemstellungen beschränkte, entsprach Erneuerungsbestrebungen
der Kulturwissenschaften, vor allem der Volkskunde und der Kunst-
und Architekturgeschichte, der Soziologie und der Kommunikationswissenschaft.
Geisteswissenschaftiche Orientierungen, wie sie vor allem in Kreisen
deutscher Immigranten seit Jahrzehnten wirksam waren, wurden in
ihren Prämissen neu diskutiert und als historische Erscheinungen
der Geschichte des Denkens relativiert. Ein erstes Programm für
die Erneuerung der Denkmodelle in der Immigrations- und Kolonialismusforschung
wurde auf den Weg gebracht. Im akademischen Bereich führte diese
Bewegung 1972 zur theoretischen und methodologischen Erneuerung
des Faches Musikgeschichte in der Hochschule für Musik und Kunsterziehung
São Paulos, indem in interdisziplinärem Zusammenschluß mit Musikethnologie
und Musikästhetik traditionelle Ansichten der Historiographie
des Modernismus über nationale Musikkulturen und Unterscheidungskategorien
zwischen Kunst-, Volks- und Popularkultur zugunsten eine Ausrichtung
der Aufmerksamkeit auf die Dynamik der Kulturformung kritisch
reflektiert wurden.
Dadurch wurden zahlreiche neue Denkansätze und Forschungsrichtungen
in Musik- und Kulturgeschichte initiiert, die später in Auseinandersetzung
mit Theoriemodellen, Begriffen und Denkströmungen anderer Netzwerke
der internationalen wissenschaftlichen Arbeit eine Eigendynamik
entwickelten. Die Diskussion der unterschiedlichen theoretischen
Ansätze der musikgeschichtlichen Forschung und Analyse, die Klärung
differenzierender Begrifflichkeit, die plurale Methodenbildung
und die Auswahl von Themenkomplexen wurden seitdem in zahlreichen
Kongressen, Tagungen, Kolloquien und Konferenzen vorangetrieben.
Dem widmet sich die Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft,
die auch die Erforschung und Analyse der wissenschaftssoziologischen
Prämissen der Entwicklung und der Dynamik des wissenschaftlichen
Arbeitens mit ihren Konsequenzen für die Akzeptanz von Ansätzen
und Denkmodellen innerhalb internationaler und interdisziplinärer
Vernetzungen fördert.
Bei allen Differenzierungen von Ansätzen, Theorien, Methoden und
bei aller Pluralität der untersuchten Problemfelder, die kulturwissenschaftliche
Aufgabestellung implizieren, bleibt als Konstante in der Arbeit
der Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft
die Grundannahme, die sie aus ihrer alten Geschichte herleitet,
sie prägt und von anderen Institutionen unterscheidet, daß die
Musik nicht nur als ein Element der Kulturgeschichte dieser zu
subsumieren ist, sondern daß sie als eine fundamentale Kategorie
der Wissenschaft und der Kulturanalyse selbst anzusehen ist.
Diese axiomatische Annahme basiert auf der Einsicht von einer
notwendig - allerdings reflektiert - anzustrebenden Kohärenz des
Denkmodells mit ältesten Auffassungen von Musik im System des
Wissens, wie es im quadrivialen Rahmen repräsentiert wurde, um
geeignete Kriterien des wissenschaftlichen Vorgehens zu entwickeln,
die eine angemessene Betrachtung von Musik- und Kulturphänomenen
gewährleistet, welche in antiken und abendländischen Traditionszusammenhängen
stehen oder zumindest in diese partiell einzuordnen sind.
Diese axiomatische Annahme erforderte konstante philosophische
Reflexionen über das Quadrivium-Modell und führte die Diskussionen
zunehmend in Richtung einer philosophischen und symbolischen Anthropologie,
in der die Musik in engem Zusammenhang mit dem Mens-Begriff reflektiert
wurde. Die Musikgeschichte tritt damit immer mehr in die Nähe
einer Mentalitätsgeschichte bzw. einer geschichtlichen Analyse
von Differenzen der Mentalitätszustände von Individuen und Gruppen
in bestimmten Situationen kollektiver Repräsentationen. Die Mens
erscheint grundsätzlich in einem Zustand der Instabilität, deren
Variierungen bzw. Niveaudynamik im individuellen und sozialen
Leben innerhalb eines definierten zeitlichen und räumlichen Kontextes
analysiert werden soll. Zu untersuchen ist beispielsweise, inwieweit
durch die Analyse des Verhältnisses zwischen 1. einer Kultur des
Arbeitslebens, 2. einer solchen der kultischen und außerkultischen
rituellen Handlungen sowie 3. logos- oder 4. willensbetonten Repräsentationen
in den symbolischen Darstellungen Chiffren erkennbar werden, die
Aussagen über den Zustand der Mens in bestimmten geschichtlichen
Situationen ermöglichen. Bei einem solchen Verständnis von Musik-
und Kulturgeschichte, deren Aufmerksamkeit auf die Interaktivität
zwischen dem Arbeits- und Geisteslebens und den damit in einem
dynamischen Komplex zusammenhängenden vernunfts- und willensbestimmten
Kräften ist die interdisziplinäre Arbeit eine selbstverständliche
Notwendigkeit. Unter anderem muß der geschichtlichen Gender-Forschung
eine besondere Bedeutung zugewiesen werden, da die Identifizierung
der Zeichen symbolischer Ordnungen meist über Gender-Kategorien
erfolgt.
Die aktuelle Situation der internationalen Studien ist durch die
fach- und wissenschaftssoziologisch bedingten Unterschiede bei
den Ansätzen, bei der Begrifflichkeit und bei der Theoriebildungen
sowie durch die Vielfalt der Themenauswahl gekennzeichnet. Im
Zentrum der Diskussionen steht die Frage, wie sich alte und neue
Positionierungen, deren Aufmerksamkeit sich auf das Wesen der
Musik richten, d.h. die "essentialistisch" orientiert sind, gegenüber
denjenigen, die die Musik als Produkt kultureller Konstruktion
betrachten, legitimieren und verhalten. Die Möglichkeit - ja die
Notwendigkeit - einer Interdependenz beider Sichtweisen wird zunehmend
akzeptiert, es fragt sich jedoch, wie sie in ein kohärentes Theoriemodell
integriert werden können.
Musik, Projekte und Perspektiven. A.A. Bispo u. H. Hülskath (Hgg.).
In: Anais de Ciência Musical - Akademie Brasil-Europa für Kultur-
und Wissenschaftswissenschaft. Köln: I.S.M.P.S. e.V., 2003.
(376 páginas/Seiten, só em alemão/nur auf deutsch)
ISBN 3-934520-03-0
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