Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria
científica
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No. 83 (2003: 3)
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ZU: DISKUSSION UM "NATIONALISMUS" UND "UNIVERSALISMUS" VOR DEM
HINTERGRUND TRANSNATIONALER MUSIKAUFFASSUNGEN IM HINBLICK AUF
FRAGEN KULTURELLER IDENTITÄT:
HEITOR VILLA-LOBOS UND JOHANN SEBASTIAN BACH
Aus dem internationalen Kolloquium zum A.Schweitzer- und J.S.Bach-Jahr 2000 der Akademie Brasil-Europa
Peter André Rodekuhr
I.
Selbst auf die Gefahr hin, den verschiedenen bisher formulierten
und diskutierten Sichtweisen, Forschungsperspektiven und -ansätzen
über das Verhältnis von Johann Sebastian Bach und Heitor Villa-Lobos
lediglich zu einer Neuauflage zu verhelfen, finden die folgenden
Betrachtungen jedoch ihre Rechtfertigung in der Aktualität dieses
Themas sowie in bezug auf die Ergebnisse eines Kolloquiums, das
im Sommer 2000 in der Akademie Brasil-Europa (Köln) unter dem
Titel "Johann Sebastian Bach und Heitor Villa-Lobos. Deutungen
und Perspektiven des Barock" stattfand. Die Wahl des Themas ergab
sich aus Anlaß des 250. Todestages Bachs und aus den Ergebnissen
des Hauptseminares "Musik in der Begegnung der Kulturen" am Musikwissenschaftlichen
Institut der Universität zu Köln unter der Leitung von Dr. Antonio
Alexandre Bispo.
Die Erforschung der Beziehung zwischen einem der größten brasilianischen
und einem der größten deutschen Komponisten ist bis heute vor
allem unter ausschließlich musikalischen Gesichtspunkten erfolgt;
es wurden Untersuchungen im Hinblick auf "Einflüsse" Bachs in
Villa-Lobos' Werk angestellt und nach möglichen Elementen gesucht,
die von Bachs Kompositionen inspiriert waren und durch den brasilianischen
Komponisten nachempfunden oder verarbeitet wurden. In Abhängigkeit
der Perspektive des Betrachters und des jeweils untersuchten Teils
seines großen Werkes erscheint Villa-Lobos bisweilen als "Modernist",
bisweilen als konservativ, nationalistisch, universalistisch,
"folkloristisch" und, in jedem Fall, als Bewunderer Bachs. In
eigentümlichen, manchmal unverständlichen Behauptungen verband
er Popularmusik mit Kunstmusik, Nationales mit Universalem, Folklore
mit Bach. Er selbst behauptete von sich, Folklore zu sein ("Folclore
sou eu."), und auch Bach erschien als "universelle folkloristische
Quelle", um zwischen den Völkern zu vermitteln.
All dies ist hinreichend bekannt und hat zweifellos zu Villa-Lobos'
Bild als dem einer einzigartigen Gestalt der Musikgeschichte beigetragen,
es kann aber nur schwerlich als Grundlage vertiefender Erforschung
dieses Themas dienen. Denn die herkömmlichen, d.h. ausschließlich
musikalischen Untersuchungen in dieser Hinsicht reichen nicht
aus, um der außergewöhnlichen Bedeutung des Themas "Bach und Villa-Lobos"
für die Betrachtung der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland
und Brasilien gerecht zu werden - zweier Länder, deren Verhältnis
nachhaltig von der Durchdringung verschiedener Musikauffassungen
und daraus resultierender Musikpraktiken geprägt war und es bis
heute ist. Sich dem Thema aus dieser Sicht zu nähern, bedeutet,
unter Infragestellung bestimmter, über lange Zeit sehr einflußreicher
Kategorien - dies betrifft vor allem die Dichotomie "Universalismus"
vs. "Nationalismus" - diese teilweise oder ganz zu überwinden
und sich dabei verstärkt Fragen der kulturellen Identität zu widmen.
Dies erfordert zwangsläufig ein erweitertes Geschichtsbewußtsein
sowie die Notwendigkeit, unterschiedliche, z.T. antagonistische
Strömungen und Einflüsse im geschichtlichen Prozeß herauszukristallisieren
und sichtbar zu machen.
II.
In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, die wichtige Rolle,
die die deutsche Kolonisierung in verschiedenen Regionen Brasiliens
spielte, sowie die mannigfachen Fragestellungen, die sich aus
diesem kulturellen Aufeinandertreffen ergeben haben, in Betracht
zu ziehen. In den deutschen Kolonien war es vor allem die durch
die Immigranten kultivierte Musikpraxis, die, einerseits, zu ihrer
Integration in die Gesellschaft, die sie empfing, beitrug. Die
Bemühungen um die Stabilisierung eines friedlichen Zusammenlebens
und gegenseitige kulturelle Bereicherung schlugen sich daher großenteils
im Musikleben nieder. Andererseits bildete die Musikpraxis das
wichtigste Mittel zur Schaffung eines Gemeinschaftsgedankens,
zur Pflege der deutschen Muttersprache, und damit auch zur Erhaltung
von Verbindungen zur alten Heimat. Diese Dichotomie verstärkte
sich in den zwanziger und dreißiger Jahren mit dem Auftreten nationalistischer
Tedenzen und einer verstärkten Rückbesinnung einiger Gruppierungen
ehemaliger Immigranten auf ihre deutsche Herkunft - eine Entwicklung,
die sich parallel zum Ausbruch nationalistischer Strömungen in
politischen, intellektuellen und künstlerischen Kreisen Brasiliens
vollzog. Diese Prozesse, die auch im Zuge internationaler politischer
Tendenzen zu sehen sind, betrafen zutiefst das soziokulturelle
Leben der damaligen Zeit und sind in ihrer Nachhaltigkeit und
Folgenschwere nicht allein für die Kulturgeschichte Brasiliens,
sondern vor allem auch für die brasilianisch-deutschen Beziehungen
von großer Wichtigkeit gewesen. Daher ist es nötig, vor eben diesem
Hintergrund einen bedeutenden rezeptionsgeschichtlichen Faktor
näher zu betrachten: die sogenannte "Wiederentdeckung" Johann
Sebastian Bachs.
III.
Die "Wiederentdeckung" Bachs erfolgte in unterschiedlichen historischen
und ideologischen Kontexten, die als charakteristische Tendenzen
der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts bezeichnet werden können.
Zum einen gab es eine allgemeine Wiederentdeckung des Barockzeitalters,
die zu einer verstärkten Beschäftigung mit dieser Epoche, d.h.
nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch mit bildender Kunst, Geistesgeschichte
und Weltsichten des Barock führte, und sich zu einer Zeit vollzog,
die geprägt war von den Bemühungen um die Findung eigener kultureller
Identitäten. Dies entsprach wesentlichen intellektuellen Bedürfnissen
der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre, die sich nicht nur
in Deutschland und Brasilien, sondern international abzeichneten
und u.a. als Ausdruck der individuellen wie kollektiven Suche
nach einer natürlichen Ordnung und der Erneuerung universaler
geistiger Werte gesehen werden konnten. Diese fand man u.a. in
der Musik und im Denken Bachs, der - im Kontext einer (teilweise
geradezu schwärmerisch zu nennenden) Vergeistigung und Spiritualität
- als herausragende Gestalt von universaler humanistischer Bedeutung
erschien.
Zum anderen erfolgte die Beschäftigung mit der Musik des Barock
unter dem Zeichen der Suche nach einem jeweils eigenen unabhängigen
Stil, nach künstlerischen Ausdrucksmitteln, die zur Schaffung
einer angemessenen sog. nationalen Sprache der Kunst führen sollten.
In Deutschland begann, verstärkt seit 1933, eine neue Phase der
Rezeption der Musik Bachs, die zur "nationalen" Musik stilisiert
wurde, da man ihr eine repräsentative deutsche Prägung zuschrieb.
Und selbst in Brasilien zeichneten sich Bewegungen ab, die das
Deutschtum Bachs hervorzuheben suchten.
Diese beiden zentralen Strömungen schlossen einander nicht notwendigerweise
aus, sondern, abhängig von der jeweiligen Perspektive, beeinflußten
sie sich gegenseitig und griffen auf bemerkenswerte Weise ineinander,
wie am Beispiel Villa-Lobos' zu zeigen sein wird.
IV.
Denn es war Heitor Villa-Lobos, der, zweifellos, den größten Teil
zur "Wiederentdeckung" Bachs in Brasilien beitrug. Einer der Gründe
für die bislang noch unvollständige Darstellung dieses Themas
liegt darin, daß den Beziehungen des Komponisten zur deutschen
Kolonie von São Paulo, und vor allem zu deutschen Kreisen des
Musiklebens dieser Stadt, bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit
gewidmet wurde. Fast in Vergessenheit geraten ist z.B. die herausragende
Rolle, die der Schubert-Chor im paulistaner Musikleben während
der zwanziger und dreißiger Jahre spielte. Es ist bekannt, daß
Villa-Lobos mehrere seiner Werke in Zusammenarbeit mit diesem
Vokalensemble, das zu den größten und fähigsten der damaligen
Zeit zählte, uraufgeführt hat. Die Arbeit mit dem Schubert-Chor
eröffnete Villa-Lobos neue aufführungspraktische und damit kompositorische
Betätigungsmöglichkeiten und stellte gleichzeitig einen entscheidenden
Schritt zur Integration und Harmonisierung deutsch-brasilianischer
Beziehungen dar. Von besonderer Wichtigkeit aber kann der Kontakt
Villa-Lobos' zur Bach-Gesellschaft von São Paulo angesehen werden.
Die Bach-Gesellschaft ging im Gedenkjahr 1935 aus Kreisen deutscher
und österreichischer Immigranten hervor, die bereits aktiv am
Musikleben der Stadt teilhatten. Dies geschah zu einer Zeit, in
der die Begeisterung für Bach einen Höhepunkt erreicht hatte,
in der Heitor Villa-Lobos seine "Bacchianas Brasileiras" komponierte
und mit der staatlichen Musikerziehung beauftragt war.
Es ist diesbezüglich ein interessantes, wenn auch wenig beachtetes
Dokument erhalten. Dabei handelt es sich um den Entwurf eines
Briefes an die Bach-Gesellschaft von São Paulo, der allerdings
- aus welchen Gründen, steht dahin - nie abgeschickt wurde. Er
legt dennoch ein erhellendes Zeugnis über das Verständnis des
brasilianischen Komponisten von der Musik Bachs, ihrer Verbreitung
und ihrer "Anwendung" ab. Obwohl er erklärt, die Musik Bachs sei
die "heiligste Gabe der Welt der Kunst", stellt es für Villa-Lobos
nicht nur eine "Verschwendung", sondern sogar eine Gefahr dar,
sie in den falschen Kreisen und zu unangebrachten Gelegenheiten
aufzuführen. Er möchte sie als Teil der ästhetischen Erziehung
einsetzen, im Sinne der Formung eines "guten Geschmacks", aber
offensichtlich auch zur Verwirklichung eines Gemeinschaftsgedankens.
Bei einem Experiment, in dem er einem Publikum von 2000 Arbeitern,
neben Werken brasilianischer Komponisten, Musik von J.S. Bach
präsentierte, ohne die Namen der Komponisten und die Titel zu
nennen, ergab es sich, daß der größte Applaus spontan den Werken
Bachs gegeben wurde. Dieses Ergebnis könne als Beweis gelten,
daß die Musik Bachs, besser als andere, in der Lage sei, Menschen
zu begeistern und zum gemeinsamen Einverständnis unter ihnen zu
führen. Daher sei sie geeignet für die nationale ästhetische Erziehung.
"VORSICHT, meine Freunde!
Die Musik J. S. Bachs ist unbestreitbar die heiligste Gabe der
Welt der Kunst. Aber da sie so unerschöpflich und so tiefgründig
ist, ist ihre Verbreitung in den sozialen Milieus, die nicht richtig
darauf vorbereitet sind, sie zu fühlen, gefährlich. Außerdem ist
die größte technische und psychologische Substanz der Inspiration
seines monumentalen Werkes gegründet auf dem freien Gesang der
Erde, durch die spontanen Gefühlsausbrüche der einfachen und ungezwungenen
Menschen. Weil Bach an Gott und das Universum gedacht hat, gibt
er durch seine musikalischen Schöpfungen, aus seinem Lande, den
geistlichsten der Beweise für die menschliche Solidarität, deshalb
müssen wir es verstehen, die Musik, die, direkt oder indirekt,
aus unserer Erde kommt, zu lieben und zu pflegen und treu und
gewissenhaft zu verbreiten. Deshalb fürchte ich, daß der gutgemeinte
Versuch und die Initiative dessen, der das Werk J. S. Bachs für
ein Publikum, das mit Argwohn und Komplexen angefüllt und ungläubig
gegenüber der künstlerischen Schöpfung seiner Landsleute ist,
aufzuführen, Verschwendung sein dürfte. Ich fürchte, daß diese
noble Geste der Bachpropaganda sich nur in oberflächliches Interesse
von mondäner Belanglosigkeit verwandelt und als Teil der Kunsterziehung
unwirksam wird. Auf dem Gebiet der Kunst muß die Jugend im kollektiven
Gehorsam der Massen gebildet werden, bis die Mehrheit das Bewußtsein
eines zivilisierten Volkes hat. Das Volk muß dazu angeleitet werden,
spontane Eliten zu bilden, und die Eliten sollen zu moralischen
und materiellen Bollwerken der künstlerischen Erfüllung ihrer
Vorlieben werden. Ich habe schon einmal die unvoreingenommene
Beurteilung einem Test unterzogen, bei dem vor mehr als 2.000
versammelten Arbeitern zwei Präludien und zwei Fugen von Bach
von 200 Lehrern des Orpheonischen Gesanges vorgetragen wurden,
diese Werke, die eine unbestreitbare Ähnlichkeit zu rhythmischen
und melodischen Elementen der Volksmusik aus unserem Hinterland
haben. Ich hatte die Vorsicht, dieses Publikum vorzubereiten,
daß sie Musik verschiedener Stile sowohl von nationalen Komponisten,
als auch vom größten Komponisten aller Zeiten hören werden, ohne
die Namen und die Titel zu erwähnen, damit sie sie ohne jegliche
Beeinflussung des Gemüts, ohne fremde Einflüsse auf den Geisteszustand,
in dem sie sich in dem Moment befanden, beurteilen würden. Sie
lauschten andächtig dem Programm, aber applaudierten viel stärker
den Werken Bachs. Ein anderes Mal präsentierte ich mehr oder weniger
das gleiche Programm einer anderen Zuhörerschaft, die das gleiche
Niveau an Urteilsvermögen hatte, bereitete sie jedoch darauf vor,
daß sie Musik von J. S. Bach und von nationalen Komponisten, deren
Namen ich nannte, hören würde. Das Resultat. Sie wußten Bach nicht
richtig zu würdigen und applaudierten genau den Werken der Komponisten,
die das Publikum dem Namen nach am meisten kannte. Von da an waren
meine Untersuchungen und Beobachtungen viel genauer, was die Art
der musikalischen Beurteilung unter denen betraf, die von sich
behaupten, gute Musik zu mögen. Immer treten im Musikpublikum
die Fälle derer auf, die den Beeinflussungen nachgeben, sei es
aufgrund der vorherigen Kenntnis der Namen der berühmten Komponisten,
der Titel des Werkes, des angekündigten Programms, oder durch
irgendein Ereignis des öffentlichen Lebens oder durch eine persönliche
Erfahrung des Einzelnen, wie zum Beispiel eine sentimentale Erinnerung,
die sich mit dieser oder jener, normalerweise romantischen und
vulgären, Melodie verbindet. Indessen sind die Fälle derer, die
die Musik ausschließlich aufgrund der Kombination von Klängen
und Rhythmen, durch das Temperament eines dafür prädestinierten
Schöpfers, zu schätzen wissen, selten. All das faßt sich zusammen
in der Art der Kunsterziehung unter den zivilisierten Völkern.
Hoffentlich, meine Freunde, erzeugt die Musik J. S. Bachs das
Wunder des leuchtenden Verständnisses zwischen den Menschen, und
möge die erhabene Hingabe in Eurer Absicht als Aussäer des unsterblichen
Werkes dieses größten der Großen unter den Sterblichen, der J.
S. Bach ist, Geschichte machen, wie ein fruchtbarer Samen, der
im Bundesstaat São Paulo, einem in Beziehung zum Universum winzigen
Fleckchen Erde, gepflanzt wird."
Wenn auch einiges skizzenhaft, teilweise unverständlich bleibt,
so wird doch deutlich, daß es sich bei Villa-Lobos' Auffassung
von der Musik Bachs um eine bemerkenswerte Verzahnung von "nationalistischen"
und "universalistischen" Konzepten handelt: Bach als Komponist
einer Musik von universaler Prägung, deren Verbreitung dennoch
dem Zweck eines nationalen Musikunterrichtsprogrammes, an Konservatorien
wie allgemeinbildenden Schulen, v.a. im Orpheonischen Chorgesang,
dienen sollte.
V.
Dieser Themenkomplex gab zum Kolloquium im Jahr 2000 ebenfalls
Anlaß, einer Persönlichkeit zu gedenken, die das Verständnis von
Bach und die Rezeption seiner Werke, in Deutschland wie in Brasilien,
auf nachhaltige Weise beeinflußt hat: des Arztes, Philosophen,
Theologen und Musikers Albert Schweitzer, dessen 125. Geburtstag
in dieses Jahr fiel. In seinem aus diesem Anlaß gehaltenen Vortrag
über "Medizin, Philosophie und die Bach-Idee" wies Dr. H. Hülskath
auf die bedeutende Stellung hin, die Schweitzer in Brasilien einnahm.
Wenn sein weltweiter Ruf auch in erster Linie von seiner Tätigkeit
als Arzt und "Entwicklungshelfer" herrührte, so kann sein 1905
veröffentlichtes Buch über Johann Sebastian Bach bis heute als
eines der wichtigsten Werke der Bachforschung gelten. In dieser
Biographie betonte Schweitzer besonders Aspekte von Musik und
Symbolik, zeigte Zusammenhänge von Tonmalerei und Bildersprache
im Werk Bachs auf und unterstrich die Bedeutung des Bildhaften
und des innerlichen Sehens. Es steht außer Frage, daß, nicht zuletzt
durch die weite Verbreitung seines Buches, Schweitzer sicherlich
den wesentlichsten der Beiträge zur Wertschätzung Bachs als einer
Persönlichkeit von universeller religiöser und humanistischer
Größe geleistet hat.
Trotz seiner Erfolge als Musiker und Musikforscher widmete Schweitzer
sich der Medizin und gründete schließlich 1913 das berühmte Tropenhospital
in Lambarene, wobei er die Beziehung zwichen seinen unermüdlichen
Tätigkeiten als Arzt, Theologe, Bachforscher und Organist auf
einer ethischen Grundlage, seinem Prinzip der "Ehrfurcht vor dem
Leben", herzustellen versuchte. Nicht nur sein Ruf als Arzt machte
ihn in den zwanziger Jahren in Brasilien bekannt; sein Name wurde
sogar von einigen brasilianischen Musikforschern im Zusammenhang
mit der "Wiederentdeckung" Bachs genannt. Von nicht zu unterschätzender
Bedeutung ist allerdings der Einfluß der Gedanken Schweitzers
auf die Bach-Gesellschaft von São Paulo gewesen, deren Gründer,
Martin Braunwieser, in persönlichem Briefkontakt zu ihm stand.
Durch die Hinwendung zu den von Schweitzer geprägten geistigen
und universellen Grundlagen einer Weltanschauung, die zutiefst
humanistisch geprägt ist, hob die Bach-Gesellschaft sich deutlich
von anderen Kreisen und Strömungen, in Deutschland wie in Brasilien,
ab, die in Bach den "nationalen" Komponisten sahen. Villa-Lobos
hingegen nahm eine nach wie vor untypische, beiden großen Positionen
nicht eindeutig zuordbare, ambivalente Stellung ein. Darin mag
vielleicht das Eigenwillige liegen, das seine Beziehung zur Musik
Bachs charakterisiert und immer wieder zur Beschäftigung mit diesem
Thema aus verschiedenen Forschungsperspektiven angeregt, aber
eine endgültige Klärung der Problematik bisher erschwert hat.
VI.
Wie gezeigt werden konnte, ist die Rezeption der Musik J.S. Bachs
im Brasilien der zwanzige- und dreißiger Jahre keinesfalls als
einheitliche Bewegung, sondern vielmehr als das Ergebnis eines
auf den ersten Blick undurchsichtigen Ineinandergreifens vielfältiger
Strömungen anzusehen, die häufig ideologisch oder politisch geprägt
waren und unter z.T. sehr verschiedenen Voraussetzungen entstanden
sind. Nicht allein die politische Dimension dieses Themenkomplexes
macht ein erweitertes Geschichtsverständnis, die Bewußtwerdung
und Berücksichtigung von zeit- und ortsgebundenen individuellen
oder kollektiven Tendenzen notwendig, sondern auch die Frage nach
nationalen und kulturellen Identitäten im Kontext von Migrationssituationen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die konzeptuelle Dichotomie
von Nationalismus und Universalismus dabei nur noch schwer haltbar
sein wird und in zukünftigen Untersuchungen z.B. der Beschreibung
von Identitätskontinua wird weichen müssen. Denn wichtiger als
das Einnehmen einer bestimmten Position ist in diesem Fall zunächst
das Erkennen und Aufzeigen von Prozessen, die zur Konstruktion
und Demontage von Identitäten im historischen und ideologischen
Kontext führen, um vor allem in einem so lebendigen Bereich wie
den deutsch-brasilianischen Musikbeziehungen vorschnellen und
kurzsichtigen Urteilen fortan vorzubeugen.
Da publicação:/Aus der Veröffentlichung:
Musik, Projekte und Perspektiven. A.A. Bispo u. H. Hülskath (Hgg.).
In: Anais de Ciência Musical - Akademie Brasil-Europa für Kultur-
und Wissenschaftswissenschaft. Köln: I.S.M.P.S. e.V., 2003.
(376 páginas/Seiten, só em alemão/nur auf deutsch)
ISBN 3-934520-03-0
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