Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria
científica
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N° 72 (2001: 4)
Brasil 2000 J.S.BACH-H.VILLA-LOBOS 31. Mai - 2. Juni 2000Akademie Brasil-Europa Direção científica/Wissenschaftliche Leitung: Dr. A. A. Bispo
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Dr. Harald Hülskath
Vorstand des I.S.M.P.S. e.V./Akademie Brasil-Europa
Die Akademie Brasil-Europa verfolgt Ziele, die nicht nur rein musikwissenschaftlicher Natur sind. Sie widmet sich Fragen grundsätzlicher Art in Kultur- und Wissenschaftsforschung, wenn auch mit einer besonderen Berücksichtigung von Musik und Musikanschauung. Auf der Grundlage dieses interdisziplinären Ansatzes fühle ich mich berechtigt, als Mediziner mit besonderer Verbindung zur Musik und zu Brasilien zu diesem Kolloquium im 500. Jahre Brasiliens beizutragen. Gerade das Thema "H.Villa-Lobos und J.S.Bach" bietet einen günstigen Anlaß, einige überlegungen über das Verhältnis zwischen Medizin, Musik und Weltanschauung anzustellen. Diese Beziehungen mögen zunächst unverständlich, vielleicht befremdlich erscheinen. Auch ich hätte vor einigen Jahren nicht erwartet, zu diesem Thema hinsichtlich Bach und Brasilien etwas sagen zu können.
Als ich 1988 Herrn Prof. Martin Braunwieser in seinem Haus in São Paulo aufsuchte, zeigte er mir, als er erfuhr, daß ich Arzt bin, als erstes einen eingerahmten Brief von Albert Schweitzer, der als Bild in seinem Musizierzimmer hing. Er erläuterte mir mit sichtlichem Stolz den Inhalt des Briefes und sprach von der Bedeutung dieses Dokuments für die Bach-Gesellschaft von São Paulo, die seine Frau Tatiana (geb. Kipmann), seine Tochter Renate und er über Jahrzehnte leiteten. Es wurde mir bewußt, welchen herausragenden Einfluß Albert Schweitzer in Brasilien ausgeübt hat. Später erfuhr ich auch von einem Vortrag von Frau Tatiana Braunwieser über das Verhältnis von Albert Schweitzer zur Bach-Gesellschaft von São Paulo und von den von Martin Braunwieser über Jahrzehnte gesammelten Notizen und Zeitungsausschnitten über Albert Schweitzer. Diese Zeugnisse befinden sich heute neben Veröffentlichungen von und über Albert Schweitzer aus dem Nachlaß Braunwiesers im Archiv des I.S.M.P.S. e.V. Aus anderen Werken aus der Instituts-Bibliothek läßt sich eine Idee von der Bedeutung Albert Schweitzers in anderen Kreisen Brasiliens gewinnen. So enthält eine Ausgabe der Zeitschrift "Intercâmbio", die zum Anlaß des Bach-Jahres 1950 von Pro-Arte in Rio de Janeiro veröffentlicht wurde, Aufsätze über diesen herausragenden Arzt.
Es sei hier kurz an einige Fakten aus dem Leben von Albert Schweitzer erinnert, der als Theologe, Arzt, Organist, Bachforscher und "Entwicklungshelfer" wie kaum eine andere Gestalt des 20. Jahrhunderts in seinem Wirken in herausragender Weise verschiedene Disziplinen miteinander verband. Er ist 1875 im Elsaß (Kaysersberg) geboren und starb in Gabun (Lambarene) 1965. Bereits 1899 wirkte er als Prediger in der evangelischen Kirche St. Nicolai in Straßburg und 1902 wurde er Privatdozent für neutestamentarische Theologie. 1905 erschien sein Werk über Bach in französischer, 1908 in deutscher Sprache. Diese Bach-Biographie erfuhr, vor allem auch in Laienkreisen, eine weite Verbreitung durch ihre lebendige und leicht zugängliche Darstellungsweise. Wenn wir heute so oft von dem Verhältnis zwischen Musik und Visionen sprechen - wie letztes Jahr während des Kongresses "Brasil-Europa 500 Jahre"-, dann sollten wir uns daran erinnern, daß auch A. Schweitzer in seinem Bach-Buch besonders die Frage des Symbols, der Tonmalerei, der Tondichtung hervorhob. Er zeigte, wie oft Motive und Themen Bachs ihren Ursprung in den Bildern der Texte hatten, d.h. wie die Bildersprache und das innerliche Sehen für die Betrachtung Bachs von Bedeutung waren. Vielleicht war es auch diese Betonung des Bildhaften - dargestellt in einer bildhaften Sprache -, die die Verbreitung seines Buches ermöglichte und zur weltweiten Anerkennung von Bach als herausragendem Beispiel menschlicher Größe beitrug.
Trotz aller Erfolge in der Musik und in der Bach-Forschung wandte sich A. Schweitzer seit 1905 dem Medizinstudium zu. Als Missionsarzt ging er nach Afrika, wo er 1913 in Lambarene ein Krankenhaus gründete. Als glühender Idealist versuchte er, dieses Hospital mit Vortragsreisen und Konzerten in Europa zu finanzieren. Ab 1917 mußte er selbst in Europa behandelt werden, kehrte aber 1924 nach Lambarene zurück, wo er 1927 ein neues Krankenhaus errichtete.
Die Beziehung zwischen ärztlichem Wirken, philosophischem und theologischem Denken, Bach- und Orgelforschung sowie musikalischer Tätigkeit versuchte A. Schweitzer über die Ethik herzustellen. Seit 1915 verstand er seine Bemühungen im Dienst des ethischen Grundprinzips der "Ehrfurcht vor dem Leben".
Der Ruf Albert Schweitzers als Bachforscher und vor allem als idealistischer Gründer und Förderer des Tropenhospitals in Lambarene erreichte in den zwanziger und dreißiger Jahren auch Brasilien. Wir wissen, daß seine Name von verschiedenen brasilianischen Musikologen in Zusammenhang mit der Wiederentdeckung Bachs erwähnt wurde. Wie jedoch Tatiana Braunwieser in ihrem Vortrag hervorhob, wurde Schweitzer im Kreise der Bach-Gesellschaft von São Paulo, die 1935 gegründet wurde, erst nach dem II. Weltkrieg richtig wahrgenommen.
Grundlegend für die Arbeit der Bach-Gesellschaft waren bis dahin vor allem die persönlichen Beziehungen zu Paumgartner gewesen, da Martin Braunwieser Schüler und Freund dieses vielseitigen Mentors des Musiklebens von Salzburg war, wie seiner Biographie zu entnehmen ist. Die Begeisterung für Bach in Brasilien erwachte am Vorabend der Feiern des Bach-Jahres 1935; Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften, die Aufführung von Werken Bachs durch Heitor Villa-Lobos sowie die Einbeziehung der Musik Bachs in das Unterrichtsprogramm der Konservatorien und die Ausbildung von Lehrern für den Musikunterricht in allgemeinen Schulen belegen dies. Auf diesen Bereich soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden, zumal die Ausstellung zu diesem Kolloquium zahlreiche Zeugnisse dieser Zeit enthält. Ebenso soll nicht auf die Rezeption der verschiedenen Strömungen der Bach-Bewegung in Brasilien eingegangen werden, auch derjenigen nicht, die bestrebt waren, das Deutschtum Bachs in den Vordergrund zu stellen. Eine eingehende Auseinandersetzung von Fachleuten zu diesem Thema scheint mir allerdings von dringender Bedeutung für die Klärung mancher Probleme der so sehr diskutierten Fragen des Nationalismus und Universalismus bei Villa-Lobos zu sein.
Ich möchte dagegen hervorheben, daß die Entdeckung von, ja die Hinwendung zu Albert Schweitzer durch die Bach-Gesellschaft von São Paulo ganz klar die weltanschauliche Haltung dieser einflußreichen Vereinigung zum Ausdruck bringt. Dadurch wird die geistige, universelle, humanistische Grundlage ihrer Bemühungen ersichtlich, die sie von Vertretern gewisser nationalistischer Strömungen des Bachverständnisses abhebt.
In einem Buch, das wir aus dem Nachlaß von Martin Braunwieser in der Bibliothek des I.S.M.P.S. e.V. besitzen, finden wir eine Biographie von Albert Schweitzer, in der eine Stelle markiert ist. Diejenigen, die Martin Braunwieser gekannt haben, werden in diesen Worten einen Schlüssel zu grundlegenden Aspekten seiner Persönlichkeit und seines Wirkens finden. Ich möchte sie daher hier als Beitrag zu den überlegungen dieser Tagung vortragen:
"Die Ideen, die das Wesen und das Leben eines Menschen bestimmen,
sind in ihm auf geheimnisvolle Weise gegeben. Wenn er aus der
Kindheit heraustritt, fangen sie an, in ihm zu knospen. Wenn er
von der Jugendbegeisterung für das Wahre und Gute ergriffen wird,
blühen sie und setzen Frucht an. In der Entwicklung, die wir nachher
durchmachen, handelt es sich eigentlich nur darum, wieviel von
dem, was unser Lebensbaum in seinem Frühling an Frucht ansetzte,
an ihm bleibt.
Die überzeugung, daß wir im Leben darum zu ringen haben, so denkend
und so empfindend zu bleiben, wie wir es in der Jugend waren,
hat mich wie ein treuer Berater auf meinem Wege begleitet. Instinktiv
habe ich mich dagegen gewehrt, das zu werden, was man gewöhnlich
unter einem 'reifen Menschen' versteht.
Der Ausdruck 'reif' auf den Menschen angewandt, war mir und ist
mir noch immer etwas Unheimliches. Ich höre dabei die Worte Verarmung,
Verkümmerung, Abstumpfung als Dissonanzen miterklingen. Was wir
gewöhnlich als Reife an einem Menschen zu sehen bekommen, ist
eine resignierte Vernünftigkeit. Einer erwirbt sie sich nach dem
Vorbilde anderer, indem er Stück um Stück die Gedanken und überzeugungen
preisgibt, die ihm in seiner Jugend teuer waren. Er glaubte an
den Sieg der Wahrheit; jetzt nicht mehr. Er glaubte an die Menschen;
jetzt nicht mehr. Er glaubte an das Gute; jetzt nicht mehr. Er
eiferte für Gerechtigkeit; jetzt nicht mehr. Er vertraute in die
Macht der Gütigkeit und der Friedfertigkeit; jetzt nicht mehr.
Er konnte sich begeistern; jetzt nicht mehr. Um besser durch die
Fährnisse und Stürme des Lebens zu schiffen, hat er sein Boot
erleichtert. Er warf Güter aus, die er für entbehrlich hielt.
Aber es war der Mundvorrat und der Wasservorrat, dessen er sich
entledigte. Nun schifft er leichter dahin, aber als verschmachtender
Mensch.
[...]
Zu gern gefallen sich die Erwachsenen in dem traurigen Amt, die
Jugend darauf vorzubereiten, daß sie einmal das meiste von dem,
was ihr jetzt das Herz und den Sinn erhebt, als Illusion ansehen
wird. Die tiefere Lebenserfahrung aber redet anders zu der Unerfahrenheit.
Sie beschwört die Jugend, die Gedanken, die sie begeistern, durch
das ganze Leben hindurch festzuhalten. Im Jugendidealismus erschaut
der Mensch die Wahrheit. In ihm besitzt er einen Reichtum, den
er gegen nichts eintauschen soll.
Wir alle müssen darauf vorbereitet sein, daß das Leben uns den
Glauben an das Gute und Wahre und die Begeisterung dafür nehmen
will. Aber wir brauchen sie ihm nicht preiszugeben. Daß die Ideale,
wenn sie sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, gewöhnlich
von den Tatsachen erdrückt werden, bedeutet nicht, daß sie von
vornherein vor den Tatsachen zu kapitulieren haben, sondern nur,
daß unsere Ideale nicht stark genug sind. Nicht stark genug sind
sie, weil sie nicht rein und stark und stetig genug in uns sind.
Die Macht des Ideals ist unberechenbar. Einem Wassertropfen sieht
man keine Macht an. Wenn er aber in den Felsspalt gelangt und
dort Eis wird, sprengt er den Fels; als Dampf treibt er den Kolben
der mächtigen Maschine. Es ist dann etwas mit ihm vorgegangen,
das die Macht, die in ihm ist, wirksam werden ließ.
So auch mit dem Ideal. Ideale sind Gedanken. Solange sie nur gedachte
Gedanken sind, bleibt die Macht, die in ihnen ist, unwirksam,
auch wenn sie mit größter Begeisterung und festester überzeugung
gedacht werden. Wirksam wird ihre Macht erst, wenn mit ihnen dies
vorgeht, daß das Wesen eines geläuterten Menschen sich mit ihnen
verbindet. Die Reife, zu der wir uns zu entwickeln haben, ist
die, daß wir an uns arbeiten müssen, immer schlichter, immer wahrhaftiger,
immer lauterer, immer friedfertiger, immer sanfmütiger, immer
gütiger, immer mitleidiger zu werden. In keine andere Ernüchterung
als in diese haben wir uns zu ergeben.
[...]
Das große Geheimnis ist, als unverbrauchter Mensch durchs Leben
zu gehen. (...) Wer an seiner Läuterung arbeitet, dem kann nichts
den Idealismus rauben. Er erlebt die Macht der Ideen des Wahren
und Guten in sich. Wenn er von dem, was er nach außen hin dafür
wirken will, gar zu wenig bemerkt, so weiß er dennoch, daß er
soviel wirkt, als Läuterung in ihm ist. Nur ist der Erfolg noch
nicht eingetreten oder er bleibt seinem Auge verborgen. Wo Kraft
ist, ist Wirkung von Kraft. Kein Sonnenstrahl geht verloren. Aber
das Grün, das er weckt, braucht Zeit zum Sprießen, und dem Sämann
ist nicht immer beschieden, die Ernte mitzuerleben. Alles wertvolle
Wirken ist Tun auf Glauben.
Das Wissen vom Leben, das wir Erwachsene den Jugendlichen mitzuteilen
haben, lautet also nicht: 'Die Wirklichkeit wird schon unter euren
Idealen aufräumen', sondern: 'Wachset in eure Ideale hinein, daß
das Leben sie euch nicht nehmen kann.'
Wenn die Menschen das würden, was sie mit vierzehn Jahren sind,
wie ganz anders wäre die Welt!
[...]"