Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria científica
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No. 87 (2004: 1)


 

    Entidades promotoras
    Akademie Brasil-Europa
    I.S.M.P.S. e.V./I.B.E.M.: Institut für Studien der Musikkultur des portugiesischen Sprachraumes/Instituto Brasileiro de Estudos Musicológicos
    ACDG: Associação Cultural Cante e Dance com a Gente (Novo Hamburgo RS)
    Institut für hymnologische und musikethnologische Studien e.V. (Maria Laach)

    Direção geral
    Dr. Antonio A. Bispo
    Direção Forum RS
    Dra. Helena de Souza Nunes, Rodrigo Schramm

© Foto: H. Hülskath, 2002
Archiv A.B.E.-I.S.M.P.S.

 

MUSIK BEI DER UMFORMUNG VON MENTALITÄTEN NACH DEN NORMEN DES ANTI-TYPISCHEN:
RESIGNIFIKATION TRADIERTER KULTURPRAKTIKEN ALS QUERSTRATEGIE DER VERÄNDERUNG

Vortrag im Theatro São Pedro, São Paulo

Antonio Alexandre Bispo

 

Vorspann

Die Veranstaltung dieses Abends verfolgt zwei Ziele:

Zum einen schließt sie die zweite Phase, die Sektion São Paulo, des Internationalen Kongresses für Euro-Brasilianische Studien 2002 ab, in dessen Rahmen auch das V. Internationale Symposium "Kirchenmusik und Brasilianische Kultur" stattfindet, das dem Thema "Musik auf der Suche nach einem Land ohne Bösem" gewidmet ist.

Zum anderen dient sie der Vorstellung in Brasilien der CD-Produktion "Alma Barroca" der Saxophonistin Maria Bragança, in der Werke von Komponisten des 20. Jahrhunderts neben Werken der Vergangenheit erscheinen, die mit Instrumenten neueren Ursprungs und mit aktuellen Ausdrucks- und Vortragsweisen aufgeführt werden.

Die Kongressteilnehmer erinnern sich sicherlich noch an die deutschen Tänze und Lieder sowie an die Ergebnisse der musikpädagogischen Bewegung CDG, die ihnen vor einer Woche in von deutschen Immigranten gegründeten Städten Rio Grande do Suls vorgestellt wurden. Sie kommen gerade vom Hinterland São Paulos, wo sie vier Tage lang "modas de viola" hörten und sich mit der Welt der "Sertanejo-" und "Caipira"-Kultur auseinandersetzten, derjenigen Welt, die die Indianer zuerst kennenlernen, wenn sie in Kontakt mit dem treten, was wir als "zivilisierte und christliche Gesellschaft" bezeichnen.

Sie werden sicherlich fragen: wo ist das Bindeglied zwischen dermaßen unterschiedliche Themen, was ist die Logik des Kongresses, was die Berechtigung dieses Konzerts im Rahmen des Kongresses?

Die Künstler, die hier auftreten, leben und wirken sowohl in Europa als auch in Brasilien, das Projekt "Alma Barroca" entstand aus Erfahrungen, Reflexionen und aus der Bündelung internationaler Kräfte, und die Werke, die sie vortragen, wurden von europäischen und brasilianischen Komponisten geschaffen.

Es gibt jedoch eine tiefer reichende Erklärung, warum wir das Projekt "Alma Barroca" mit dem Internationalen Kongreß Euro-Brasilianischer Studien und mit dem in dessen Rahmen stattfindenden V. Internationalen Symposium "Kirchenmusik und Brasilianische Kultur" in Beziehung bringen. Ich möchte in wenigen Worten den Sinn erläutern, den ich in solchen scheinbar disparaten Veranstaltungen sehe. Ich hoffe sogar, daß meine Reflexionen die Brücke schlagen werden zur letzten Phase des Kongresses, die in Städten der Küste São Paulos, in Paraty und in Rio de Janeiro stattfinden wird und dem Thema "Memoria und Musik in der Konstruktion der Zukunft" gewidmet ist.

Morgen werden die Kongreßteilnehmer in Guarujá ihre Aufmerksamkeit auf Hans Staden richten, den deutschen Abenteurer, der bei seiner Gefangennahme durch die Indianer der Küste São Paulos im 16. Jahrhundert fast das Leben verloren hätte. Wenn wir den faszinierenden Bericht, den er verfaßt hat, lesen, dann wird uns das Ausmaß der Mißverständnisse bewußt, die aus den Schwierigkeiten der Kommunikation und des Verständnisses von Sprachen und Mentalitäten erwachsen sind. Was sollen wir dann von den Schwierigkeiten sagen, die die Missionare zu bewältigen hatten, um den Indianern Inhalte der christlichen Doktrin sowie die Geschichte der Ankunft Christi in der Vergangenheit in einem Land und in einem Volk sowie in Kontexten, die für die Indianer völlig fremd waren, nahe zu bringen? Wir können kaum nachvollziehen, daß die Indianer überhaupt in die Lage versetzt wurden, Geschichte und Geschichten von Heiligen und von der Kirche zu erfassen und vor allem Lehren und theologische Reflexionen von hohem Abstraktionsgrad in einer Sprache, die ihnen absolut unbekannt war oder von der sie nur Rudimente kannten.

*

Die Missionierung der Indianer konnte nicht ausschließlich oder grundsätzlich auf dem Wort basieren, sondern erfolgte durch Bilder. Die Bildersprache bestand allerdings nicht vorwiegend aus einer visuellen, realistischen oder naturgetreuen Deskription der Geschichte des Christentums, denn eine solche illustrative Darstellung würde nicht Wege zur Konversion der Indianer eröffnen, da diese naturgemäß nicht über die Voraussetzungen verfügten, historische Epochen, geographische Gegebenheiten sowie kulturelle und religiöse Zusammenhänge in den Bildern wiederzuerkennen. Nur eine Bildersprache, die aus Allegorien, Symbolen und Zeichen zusammengesetzt war, konnte von der bekannten Realität der menschlichen Natur mit all ihren Schwächen ausgehend, die sowohl Indianern als auch Europäern gemein war, ohne Worte auf die Idealbilder hinweisen, die paradigmatisch für den Menschen und die Gemeinschaft verkündigt wurden.

Die Kommunikation durch Zeichen, die als solche nicht auf sich selbst, sondern auf etwas anderes hinweisen, indem sie Richtungen angeben, war eine der wichtigsten Methoden - gleichsam pädagogischer Art - für die nicht-verbale Vermittlung von Werten und eines Systems von Auffassungen des Menschen, das normativ gelten sollte. Der neue Mensch sollte einer sein, der, sich an diesen Normen orientierend und von Tugenden des Geistes erfüllt, Schwäche und Mangel überwunden hat, die für den irdischen Menschen in seinen unterschiedlichen Typen charakteristisch sind.

Dieser neue Mensch war so notwendigerweise anti-typisch orientiert. Er sollte nämlich das Typische, das, was für das Irdische des Menschen normal ist, überwunden haben und stets darauf achten, nicht in die abgestorbene, vorausgegangene Situation zurückzufallen. Er identifizierte sich mit der Welt des Anti-Typischen und brach dadurch seine Loyalität mit der angestammten Welt des Typischen.

Wegen der Instabilität des Neuen Menschen, der gefährdet ist, immer wieder zurückzufallen, mußte der Alte, der gestorbene irdische Mensch, der tot bleiben mußte, kritisch als Groteske der Niedrigkeiten des animalischen Menschen im Gedächtnis behalten werden. Dies erfolgte nicht durch Worte, sondern durch Bilder, die pointierend und parodistisch Repräsentationen des Menschen und der Gesellschaft wiedergaben. Boshaftigkeiten aller Art, Gewaltsamkeiten und Verfolgungen, Auswirkungen von Gier, Machtgelüsten und anderen Schwächen des Menschen in seiner animalischen Kondition wurden nicht als furchterregend darsgestellt, sondern als lächerlich, lachhaft und somit ohne Angst einflößende Wirkung für denjenigen Menschen, der geistig neu geboren war, sich nach den Normen des Anti-Typischen orientiert und in seiner kulturellen Identität durch die Wiederholung in Spiel und Tanz neu geformt worden war.

Die Konfrontation zwischen dem Alten und dem Neuen - grundlegend für das Christentum: Altes und Neues Testament, Alter und Neuer Bund - wurde so zum wichtigsten Merkmal der Matrix bei der Kulturformung und der Formung der Kulturidentität des "Neuen Menschen" Brasiliens. Unsere ludischen Kulturphänomene der sogenannten Folklore bezeugen noch heute die Bedeutung, die den Darstellungsweisen des Grotesken menschlicher Typologie für die einübende Erneuerung und Verstärkung angenommener Kulturidentität durch Wiederholungen und variierende Repetitionen zu kultfreien Stunden religiöser Festtage zuzumessen ist.

Figuren und Masken von alten Frauen und Männern, die als geizig, wollüstig und zornig mit Attributen des Fleisches und des fleischgebundenen Menschen dargestellt werden, erscheinen nicht nur im Karneval, sondern auch in den Tänzen der Alten, im Brauch der Zersägung der Alten, in der Konzeption der alten Frau, die durch den Tanz des Heiligen Gonçalo einen Mann finden soll, und in vielen anderen Ausdrucksweisen der Volkskultur. In Maskeraden, Reisados und anderen Spielen erscheint der alte Mensch neben animalischen Wesen, neben Figuren des Ochsen und Darstellungen des Kampfes, zwischen Werken des Fleisches und Früchten des Geistes, d.h. symbolisch in unserer Tradition vor allem in der Form von Kampfspielen zwischen Christen und Mauren und in Reiterspielen.

Bei diesen Darstellungen des Alten und allen negativen Assoziationen mit dem Typischen des irdischen, animalischen Menschen wurden und werden nicht nur Gestalten des Alten Bundes, sondern auch weibliche und männliche Figuren des Alten europäischer Bräuche, die dem primitiven, unkultivierten Menschen ländlicher Regionen oder Vertretern von Berufen ohne Ansehen entsprechen, herangezogen, die neben Figuren erscheinen, die Attribute der Indianer-Kulturen tragen, z.B. Musikinstrumente, Waffen und Schmuck, d.h. die Welt repräsentieren, die die Indianer überwinden sollten. Das Kulturerbe der grotesken Ludik des Abendlandes wurde so nach Brasilien verpflanzt und dabei in seinen Darstellungsweisen der Umkehrung des Alten in Neues ausgeweitet und intensiviert. In diesem Prozeß der Einübung neuer Darstellungsweisen der neu geformten Kulturidentität bei gleichzeitig parodistischer Entwertung des Alten - sei es europäisch, afrikanisch oder indianisch - erfolgte somit eine dynamische Synkresis, die noch heute unsere Kultur prägt. Sicherlich ist die außerordentliche Bedeutung des Karnevals für Brasilien auf diese Methode der Missionierung der Vergangenheit und auf diesen Prozeß der Formung von Kulturidentität zurückzuführen.

Trotz aller fragwürdigen und zu kritisierenden Aspekte dieses Mechanismus, der in diesem Zusammenhang nur kurz angedeutet werden kann, können wir in ihm einen formenden Prozeß erkennen, der unsere geistig-kulturelle Identifikation, Darstellung und Repräsentation zutiefst geprägt hat. Dadurch lassen sich auch Charakteristiken unserer Mentalität untersuchen, da die Mens -- das geistige, kontemplative Leben - eng und konträr mit dem aktiven, durch die Einübung der Darstellungsweisen disziplinierten Leben zusammenhängt. Ein gewisser überlegener Habitus gegenüber menschlichen Schwächen, eine Tendenz zum Lachen angesichts des Grotesken von Individuen und Situationen, eine tiefe Freude, die die innere Freiheit dessen bezeugt, der im Bewußtsein lebt, nicht mehr den Notwendigkeiten des Typischen unterworfen zu sein, das Gefühl neu, jung, kindlich zu sein und nicht alt in der Verhaftung an Gewohnheiten - all dies könnte gedeutet werden im Licht dieser Konzeptionen über den Mechanismus kultureller Umformung, die in der Vergangenheit mit effizienten Methoden durchgesetzt wurde.

Ich sehe somit einen tiefen und vermittelnden Sinn in all unseren Tagungen und Veranstaltungen. Es gibt nämlich basale Strukturen, Organisationsprinzipien und Prozesse, die den Darstellungsweisen der Kultur Europas und Brasiliens gemeinsam sind. Ihnen wohnt eine Logik inne, die eine Selbst-Organisation, eine kontinuierliche Anpassung und Aktualisierung unserer Spiele und Tänze bewirkt, was einen der Schwerpunkte unserer Diskussionen bildet. Diese Logik bezieht sich auf die Überwindung des Menschen und einer Gesellschaft, die vom Bösen durchsetzt ist, nicht in aggressiver, sondern in einer spielerischen und freudigen Weise. Diese Konzeption wurde sowoh basierend auf dem biblichen Bericht über die Sintflut als auch durch die Deutung des entsprechenden Guarani-Mythos zum Kern der Diskussionen im Rahmen des V. Symposiums "Kirchenmusik und Brasilianische Kultur". Diese Logik betrifft eine konstante Metamorphose des Alten in Neues, des Toten in Lebendiges, des Vergangenen in Gegenwärtiges, d.h. ein immer vorhandenes Streben nach Transfiguration, nach Relektüre, nach Revision und Reinterpretation, was auch auf das Projekt "Alma Barroca" zutrifft.

Wir können noch weiter gehen. Bei unseren Sitzungen in Paraty werden wir uns mit den Beziehungen zwischen Memoria und Musik in der Konstruktion der Zukunft befassen. Dieses Thema umfaßt selbstverständlich die Vielschichtigkeit des identifikatorischen Prozesses in unserer Gesellschaft und die Vielfalt der geschichtlichen Kontinuitäten. Es betrifft somit auch die Frage der Memoria und der Erschaffung der Zukunft der verschiedenen Minderheiten bzw. marginalisierten Segmente unserer Gesellschaft.

Das Verstehen der Logik, die dem Mechanismus der Formung von Kulturidentitäten innewohnt, scheint Wege zu eröffnen, um Weltsichten, Attitüden gegenüber sich selbst und dem Leben sowie Darstellungsweisen und Repräsentationen angemessen zu analysieren, die uns zunächst befremdlich erscheinen mögen.

Wie die Untersuchung des identifikatorischen Prozesses unserer Kulturformung zeigt, entspricht die Opposition zwischen Altem und Neuem wesentlich derjenigen zwischen Typischem und Anti-Typischem.

Was eigentlich typisch ist für unsere Kultur ist, daß sie anti-typisch ist. Eine Kulturbetrachtung, die die Kultur und die Kulturidentität Brasiliens im Sinne eines Kulturkonservatismus nur im Licht des Charakteristischen, des Typischen, sieht, unterliegt einer Verwechslung von Begriffen und begeht somit einen gravierenden Irrtum in der Kulturanalyse. Anstatt Kulturphänomene zu konservieren, beraubt sie sie durch die Verkennung ihrer Prinzipien ihrer kreativen und transformierenden Potenzialität. Ihre angemesse Betrachtung jedoch kann unsere Sensibilität für die Wahrnehmung von tiefen Inhalten und Prozessen selbst in solchen Darstellungsweisen schärfen, die uns als grotesk erscheinen, nämlich bei denjenigen, die wir als Ausdrucksweisen eines Menschen mißverstehen, der nur Typen lächerlich darzustellen und Konventionen zu untergraben scheint, tatsächlich aber durch das Lachen über sich selbst und über Situationen auf die Existenz einer anderen, unsichtbaren Wirklichkeit hinweist. Ein solcher Mensch spricht zu uns durch Umwandlung zu einem besseren Menschen, der weniger gierig, weniger machtbesessen, freier und vergeistigter ist, der singt und tanzt, der sich darüber freut, frei zu sein, sich mit einer Kultur der Freiheit zu identifizieren, sich einzuüben in Darstellungsweisen des Untypischen, in die Normativität des Unkonventionellen, der jubiliert, weil er sich aus seinem Gefängnis durch eine andere Identifikation befreit hat, der zugleich zu einem Protagonisten und zu einem Agenten einer Kultur der Freude geworden ist.

 

Alguns textos dos anais do Congresso foram publicados em:/Einige Texte der Annalen des Kongresses wurden veröffentlicht in:
Musik, Projekte und Perspektiven. A.A. Bispo u. H. Hülskath (Hgg.).
In: Anais de Ciência Musical - Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft. Köln: I.S.M.P.S. e.V., 2003.
(376 páginas/Seiten, só em alemão/nur auf deutsch)
ISBN 3-934520-03-0

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