Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria
científica
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No. 86 (2003: 6)
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MOBILITÄT IN DER MUSIKGESCHICHTE: HORIZONTALE UND VERTIKALE BEWEGUNGEN IM PROZESS ZUNEHMENDER VERSTÄDTERUNG
[Auszug des Vortrags]
Antonio Alexandre Bispo
Die Erforschung und Analyse der Musikvergangenheit von Bragança
Paulista und seines Einzugsbereichs ist nicht neu. Bereits zu
Beginn der siebziger Jahre wurden die ersten Arbeiten im Rahmen
der Projekte des 1967 gegründeten Zentrums musikwissenschaftlicher
Forschungen der Vereinigung zur Neuen Diffusion in São Paulo1 - des heutige Brasilianischen Instituts Musikwissenschaftlicher
Studien mit Arbeitsstätte in Joanópolis - durchgeführt.2 Die damals an Ort und Stelle gesichteten Materialien wurden z.T.
in meiner Dissertation zur Kirchenmusik in der Provinz São Paulo
zur Zeit des zweiten brasilianischen Kaiserreiches3 in deutscher Sprache veröffentlicht, die in der Originalfassung
bisher noch nicht erschienen ist. Meine Absicht dabei war es,
vor allem die Prozesse des Wandels in der Musikpraxis in den Kirchen
der Provinz - vor allem auch des Hinterlandes - in ihren Beziehungen
zur Hauptstadt der Provinz und des Reichs zu untersuchen. Im Mittelpunkt
stand die Untersuchung der Konzeptionen hinsichtlich der Sakralität
in der Musik, die in der allmählichen Abschaffung der instrumentalbegleiteten
Kirchenmusik und deren Ersatz durch a capella-Chöre oder durch
Harmonium- oder Orgelspiel gemäß den Idealen und Normen der Bewegung
zur Reform der Kirchenmusik erkennbar wurden.
Um diesen Prozeß der Veränderung der Musikpraxis systematisch
zu untersuchen, wurden soziale Netzwerke der Musiker der Vergangenheit
gleichsam rekonstruiert, damit die Beziehungen zwischen Musikern
und Institutionen der verschiedenen Städte des Landes darstellbar
werden konnten. So konnten Netzwerkanalysen nach unterschiedlichen
Kriterien vorgenommen werden. Damit wurde es u.a. möglich, Fokussierungen
des Musiklebens in den unterschiedlichen urbanen Zentren sowie
familiäre, professionelle, sozial bedingte und ethnische Bindungen
zwischen Musikern und Institutionen zu erkennen und Linien in
der Dynamik der Kulturdiffusion im Austauschsprozess von Noten
und Instrumenten zwischen den Ortschaften aufzuzeigen. Damit ließen
sich Ansätze zu einem methodisch geführten Studium der Verbreitung
des Repertoires, von stilistischen und ästhetischen Strömungen
sowie von Traditionalisierungs- und Innovationstendenzen in der
Musikgeschichte des Hinterlandes in seinen Bezügen zur Hauptstadt
der Provinz und zu Rio de Janeiro erkennen.
In diesem Gesamtrahmen von Untersuchung diffusionistischer Prozesse
und ihrer Rezeptivität im Rahmen der Musikgeschichte - Konzepte,
die damals im Mittelpunkt des musiktheoretischen Interesses der
Musikforschung lagen - wurde die Bedeutung der Rolle der Stadt
Bragança Paulista erkannt, die sie im Verlaufe des 19. Jahrhunderts
in der regionalen Musikgeschichte gespielt hat. Es wurde auch
ersichtlich, daß eine eingehende Untersuchung der Struktur des
Musiklebens von Bragança in seinen Beziehungen zu den anderen
Städten - unter Beachtung ihrer Veränderungen - gleichsam paradigmatisch
zur Untersuchung des kulturellen und besonders musikalischen Diffusionsprozesses
in anderen Regionen dienen könnte, die vergleichbare infrastrukturelle
Bedingungen aufwiesen.
Bragança schien eine optimale Fallstudie für das musikgeschichtliche
Studium kultureller Wandlungen in urbanen Zentren im 19. Jahrhundert
zu sein, die durch den Bau von Eisenbahnen in intensiveren Kontakt
zueinander traten. Dabei verloren Beziehungen zu anderen Städten,
die bis dahin relevant waren, an Bedeutung und veränderten sich
vorhandene soziale Netzwerke von Musikern.4
Mobilität ist ein entscheidender Faktor in einer Sozialgeschichte
der Musik. Analysen der Beweglichkeit und Positionswechsel von
Musikern und Ensembles erfolgen in einem Bezugssystem horizontaler
und vertikaler Parameter. Als horizontal können räumlich - d.h.
örtliche und regionale - Veränderungen des Arbeitsumfelds und
Lebensmittelpunkts von Musikern und Ensembles gelten. Als vertikal
sind die sozialen Auf- und Abstiegbewegungen von Komponisten,
Instrumentalisten oder auch Musikergruppen innerhalb einer Zeitspanne
zu verstehen. Die Richtungen der Möbilität verweisen auf die wechselnde
Bedeutung von Musikzentren. Horizontale und vertikale Mobilität
bedingen auch die Verbreitung und den Wandel von Stilen und. Vortragspraktiken
und beeinflussen die Wechselbeziehungen zwischen den Musiksphären
der Kunst- und der Popularmusik. Auftritte von Musikern bei künstlerischen
Reisen, die durch die seit dem 19. Jahrhundert stets zunehmenden
Möglichkeiten der Verkehrsverbindungen erleichtert wurden, können
auch in internationaler Betrachtung der Musikgeschichte neue Perspektiven
eröffnen. Die Untersuchung der sozialen Mobilität ist eng mit
der Geschichte der Urbanistik verbunden. Verstädterung von Landschaften,
stärkere Einbindung ruraler Gebiete in urbane Zentren, Niedergang
von Städten und Regionen, Erschließung neuer Räume und Ausdehnung
des Straßennetztes bedingen Umschichtungen beruflicher Möglichkeiten
von Musikern und haben Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen
ländlichen und urbanen Musikpraktiken und -stilen.5
Wir wissen, wie sehr in den Vereinigten Staaten die goldenen neunziger
Jahre für die Geschichte der nordamerikanischer Unterhaltungsmusik,
vor allem des Jazz, von Bedeutung waren. Wir wissen auch, wie
dort die Mobilität farbiger Musiker, die berufliche Chancen in
aufstrebenden Städten suchten, die Geschichte des Ragtime und
des Jazz geprägt hat, so daß die Musikforscher etwa von "klassischem"
Saint-Louis-Ragtime oder von "New Orleans Jazz" und dessen Ausbreitung
nach Chicago sprechen. Wir wissen aber auch, daß die Blaskapellenmusik
der "street bands" und der Tanzkapellen sozial durch ihre Hautfarbe
unterprivilegierter Musiker wesentlich zu der Entstehung des Ragtime
und des Jazz beigetragen hat, die in einer späteren Phase von
Musikern weißer Hautfarbe imitiert wurden.
In der Musikgeschichte des 19.Jahrhunderts Brasiliens können wir
ähnliche Entwicklungen feststellen, d.h. die Entstehung eines
immer dichter werdenden Netzwerkes von Musikern schwarzer Hautfarbe,
die Blaskapellen bildeten und durch das Land von Fest zu Fest,
von Parade zu Parade reisten. Wir können durch die Mobilität bestimmter
Komponisten und der Verbreitung ihrer Kompositionen feststellen,
daß z.B. Synkopenbildungen in ihrer Produktion - was später als
charakteristisch für eine als national identifizierte Musik Brasiliens
gelten sollte - das Musikleben bestimmter Städte stilistisch prägte.
Damit ist es möglich, Ansätze zu finden zur Rekonstruktion von
Zentren und sozio-kulturellen Kontexten in der Entwicklung und
Verbreitung stilistischer Merkmale.
In dieser Geschichte spielte Bragança Paulista eine bedeutende
Rolle. Bragança gehörte zu den Städten der Provinz São Paulos,
deren Sozial- und Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert durch die
Eisenbahn am offensichtlichsten geprägt wurde. Der Bau der Estrada
de Ferro Bragantiga, die die Region mit der Station von Campo
Limpo am Km 128 der São Paulo Railway und damit mit der Hauptstadt
und dem Hafen von Santos verband, ging auf den Plan zurück, die
Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte zu erleichtern und zugleich
die Entwicklung des Gebietes vom Hinterland São Paulos bis zur
Grenze nach Minas Gerais zu fördern. Der Bau wurde 1872 durch
ein Provinzialgesetz verfügt, und der erste Zug erreichte die
Stadt im Jahre 1884.6
Diese Bahn veränderte die geopolitische und interregionale Orientierung
von Bragança in sozialer und kultureller Hinsicht. Bindungen zu
anderen Ortschaften, die bis dahin durch die alten Landwege aus
der Kolonialzeit aufrecht erhalten wurden,7 wurden durch die neue Verkehrs- und Kommunikationslinie und deren
Netz von Abzweigungen modifiziert. Städte, die bis dahin z.B.
durch die Musikaufführungen bei Volksfesten und religiösen Feiern
einen besonderen Ruf genossen, wurden von anderen ersetzt.
Es ist möglich, in gewissem Rahmen zu erkennen, wie die lokale
Bedeutung von Zentren der Musikpflege in musikgeschichtlicher
Hinsicht innerhalb des gesamten Netzwerkes sozio-kultureller Kontakte
in ihrer inneren Dynamik durch die neue Eisenbahnverbindung verändert
wurde. Diese Veränderungen erwiesen sich nicht nur für die kommunale
Kulturgeschichte von Bedeutung, denn sie dienen z.B. zur Feststellung
von Blüte- und Niedergangszeiten des Musiklebens sowie der besseren
oder schlechteren sozio-okönomischer Stellung der Musiker und
ihrer Einflußmöglichkeiten auf die anderen Zentren der Region.
Sie dienen auch dem Studium der Migrationsgeschichte von Musikern,
die in ihren Heimatorten nicht mehr ausreichende Gelegenheiten
zur beruflichen Betätigung fanden und besseren Chancen in Städten
suchten, die von dem durch die Eisenbahn verursachten wirtschaftlichen
Aufschwung profitierten.8
Die Untersuchung interner Migration und Mobilität ermöglicht aber
auch die Konstituierung von neuen Identitäten in der Zugehörigkeit
zu transkommunalen oder gar transregionalen Netzwerken des Musiklebens.
Sie erlaubt somit zu erkennen, wie diese erhöhte Mobilität in
den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts dazu führte,
daß sich bestimmte Konstellationen von Sängern und Musikern bildeten,
die von großer Bedeutung sowohl für die Geschichte der Kirchenmusik
als auch für die der weltlichen Musikpflege waren.
Die wirtschaftliche Entwicklung der Region hatte bereits vor dem
Bau der Eisenbahn zur einer Blüte des Kultur- und Musiklebens
der Stadt geführt. Als der Auftrag zur Konstruktion der Linie
abgeschlossen wurde, d.h. Anfang der siebziger Jahre, war die
wichtigste Gestalt des Musiklebens von Bragança Daniel da Silveira
Vasconcelos, der damals das Orchestra Bragantina leitete. Er gehörte
zu den führenden Persönlichkeiten der Stadt und wurde sogar als
würdig erachtet, in die Reihe einflußreicher Personen der Gemeinde
im renommierten Almanach der Provinz aufgenommen zu werden. Das
Orchester war für die Musik in den Kirchen der Stadt zuständig,
die im Hinterland der Provinz wegen des Aufwandes der religiösen
Feiern berühmt waren. Das katholische Leben war von der einflußreichen
Gestalt eines Geistlichen, P. Ezequias Galvão de Fontoura, geprägt.
Der Höhepunkt des Kirchenjahres war - wie in anderen Städten des
Hinterlandes von São Paulo - die Karwoche, die in Bragança Paulista
besonders feierlich gehalten wurde. Das Orchester trat allerdings
auch bei weltlichen Gelegenheiten, zu familiären und sozialen
Anlässen auf.
Zur Zeit der Ankunft der Züge in den achtziger Jahren stand das
Orchester unter der Leitung von Francisco de Souza Dias Guimarães.
Es wäre interessant zu überprüfen, ob dieser Kapellmeister familiäre
Bindungen zu João Manoel Vieira Leite Guimarães besaß, der neben
anderen einflußreichen Persönlichkeiten von Bragança - den "Coronéis"
- den Vertrag zum Bau der Eisenbahn mit der Provinzialregierung
unterschrieben hat.
Die Eröffnung der Eisenbahn leitete eine Phase von Aufbruchsstimmung
und Fortschrittsglauben - auch hinsichtlich des sozialen und kulturellen
Lebens - in der Lokalgeschichte ein, die ihren deutlichsten Ausdruck
in der Gründung und Entwicklung von Blaskapellen fand. Seit Ende
des Paraguay-Krieges war eine Zunahme der Zahl ziviler Kapellen
zu verzeichnen. Zum einen fanden in diesen die zurückgekehrten
Musiker der Militärkapellen eine Möglichkeit für weitere musikalische
Betätigung, zum anderen wurden nun gebrauchte Instrumente der
Militärkapellen auch für ärmere Menschen erschwinglich.
Die Politisierung des Lebens Brasiliens und die damit einhergehende
Parteilichkeit führten dazu, daß in jedem Ort zumindest zwei Kapellen
- der Konservativen und der Liberalen - gebildet wurden. Die politsch
bedingte Konkurrenz zwischen den Vereinen wurde von der Suche
nach Popularität und öffentlicher Aufmerksamkeit begleitet, was
nicht nur zu einer künstlerischen und technischen Vervollkommnung
führte. Es kam auch zu Neuheiten hinsichtlich Instrumentarium
und Repertoire sowie Aufführungspraktiken und Stilen.
Die Unterschiede der politischen Richtung sollten auch in musikalischen
Differenzen spürbar sein. Der Austausch von Musikstücken mit anderen
Kapellen der gleichen Partei verschiedener Ortschaften erfolgte
bei gegenseitigen Besuchen von Kapellmeistern und Instrumentalisten.
Auch ganze Kapellen statteten politisch gleichgesinnten Körperschaften
anderer Städte regelmäßig Besuch ab und halfen sich gegenseitig
bei politischen Kampagnen oder wichtigen Auftritten. Die politische
Zugehörigkeit der Kapellen ist demnach als ein wichtiges Element
bei der historischen Analyse der sozialen Netzwerke und der Rekonstruktion
einer peripheren und subalternen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts
zu betrachten.
Die wichtigsten Blaskapellen von Bragança in den achtziger Jahren
gehörten dem "Club Musical 15 de Outubro" und dem "Club Musical
Lyra de Apollo" an. Vorsitzender des Clubs 15. Oktober war 1890
Hermógenes Horá cio de Paiva, Vorsitzender des Clubs Lyra von
Apollo war Gustavo Moreira. Besonders Hermógenes Horá cio de Paiva
erlangte einen Ruf in anderen Städten des Hinterlandes und in
der Hauptstadt São Paulo, wo verschiedene Kompositionen oder Kopien
von ihm in Sammlungen von Blaskapellen aufgefunden wurden.9 Daraus wird ersichtlich, daß dieser Kapellmeister eine umfangreiche
Sammlung von Partituren besaß und er stets bemüht war, in der
Hauptstadt gedruckte Noten für Klavier zu erwerben, um sie für
Blaskapelle zu bearbeiten. Diese Instrumentierungen wurden dann
wiederum zu anderen Städten des Staates verkauft. Ein Beispiel
hierfür ist die aus Italien importierte "Marcia Militare Alessandria",
die er 1892 für Blaskapelle nach der üblichen Instrumentalbesetzung
kleinerer Kapellen bearbeitete. Zu seinen bekanntesten Kompositionen
zählten die Polka "Entrevistas", eine "Marcha Funebre", der "Dobrado
La Facenda", der 1903 selbst im fernen Araçariguama von der Kapelle
von Benedito de Moraes gespielt wurde, und der "Dobrado O Perigo"
von 1913. Diese Werke werden hier genannt, um anzudeuten, welch
ein Repertoire H. Horácio de Paiva um die Jahrhundertwende pflegte.
Außer stilisierter Musik aus dem Tanzrepertoire und Salonmusik
wurden Märsche für Prozessionen und vor allem zur Begleitung von
Begräbnissen geschrieben. Diese Praxis muß hier besonders hervorgehoben
werden, da sie eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der
Unterhaltungsmusik hatte, weil die Blaskapellen bei der Rückkehr
von Bestattungen in der Regel zu einem leichteren Repertoire übergingen
und die Märsche häufig durch Synkopierungen, Improvisationen und
schnellere Tempi veränderten.
Congresso de Estudos Euro-Brasileiros 2002
© Foto: H. Hülskath, 2002 - Archiv A.B.E.-I.S.M.P.S.
Aus dem Repertoire anderer Städte übernahm H. Horácio de Paiva
vor allem durch Tausch Kompositionen, die durch ihren Titel oder
sonstige Assoziationen mit fremden Gemeinschaften identifiziert
wurden, wie z.B. den "Dobrado Silvino Rodrigues" aus Santana do
Paraíba und Cabreúva, oder den Namen eines dortigen bekannten
Musikers trugen. Die Verwendung von Namen fremder einflußreicher
oder geachteter Personen in den Titeln führte naturgemäß zu einer
Verbreitung ihres Bekanntheitsgrades, was häufig - wie auch Benennungen
nach Daten aktueller Ereignisse - für politische Zwecke genutzt
wurde. Von solchen Kompositionen seien hier genannt der "Dobrado
Jorge Fonseca de J. Nascimento" und der "Dobrado 15 de Novembro"
aus dem Jahre 1890 von Antonio de Arantes Bueno aus Jaguari.
Von den vielen Walzern, die bei den Freiluftkonzerten in Bragança
von H. de Paiva aufgeführt wurden, sei hier der "Valsa Bragantina"
erwähnt, da er der kulturellen Identifikation der Einwohner Braganças
mit ihrer Stadt diente bzw. dienen sollte. Den gleichen Zweck
erfüllten Kompositionen anderer Autoren, wie der "Valsa Bragança"
von 1913, der von João de Deus stammte.
Aus dem Repertoire von Kompositionen mit sentimentalem Charakter
von H. de Paiva sind solche Stücke zu erwähnen, die lebenden,
verstorbenen oder verabschiedeten Freunden gewidmet waren, wie
der Walzer "Benedito de Souza" und der Walzer "Separação de Amigo"
für seinen Freund JoséBenedicto. In seinem "Valsa Mulata" suchte
H. de Paiva Charakteristiken musikalisch wiederzugeben, die dem
verbreiteten Bild des koketten Weiblichen von Mulattinnen entsprachen.
In dem Repertoire seiner Kapelle - und sie wird hier nur als ein
Beispiel hervorgehoben - vermischte sich somit Musik unterschiedlicher
Herkunft, die verschiedenste Assoziationen hervorrief. Auch bearbeitete
H. de Paiva Kompositionen von renommierten Komponisten Brasiliens,
wie den "Valse Lente" von Henrique Oswald, den er auch aus einer
Klavierfassung kannte.
Die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurden auch in Bragança
musikgeschichtlich von der Blüte der Klaviermusik geprägt. Klavier
zu lernen wurde auch in dieser Stadt zu einer Pflicht in der Musikerziehung
von Frauen sozial besser gestellter Kreise. Klavierspielen wurde
zu einem Zeichen der Zugehörigkeit zu einer kultivierten Schicht.
Unter den Klavierlehrern Braganças hoben sich Antonio R. da Fonseca
und der Italianer Alfredo Alberti hervor. Auch sind die vielen
Klavierlehrerinnen zu erwähnen, da gerade im Klavierunterricht
die Frauen Braganças Möglichkeiten einer beruflichen musikalischen
Betätigung fanden. Von ihnen seien Francisca de Amorim und Regina
de Toledo genannt.
Seit dem Bau der Eisenbahn konnte Bragança engere Beziehungen
zu anderen Städten entlang der Linie pflegen, vor allem zu Jundiaí,
der Endstation der São Paulo Railway. An der Zwischenstation Itatiba
gab es eine der bekanntesten Blaskapellen der Region, die Musikgesellschaft
"Lyra Itatibense", die von Miguel Cardoso Rebelle geleitet wurde.
In Jundiaí wirkte Joaquim Romão da Silva Prado, ein Musiker und
Komponist, der in Ausübung seines Berufes stets zwischen Itú und
Cabreúva umherreiste und die Verbindung zwischen dem von Bragança
bestimmten Netzwerk zu jenem von Itú gewährleistete. Aus der Sphäre
der Kirchenmusik ist vor allem José Correa da Silva - bekannt
als Juca Bolinho - zu erwähnen, der aus sehr einfachen sozialen
Verhältnissen stammte und über Jahrzehnte die Musikaufführungen
bei den Volksfesten des Wallfahrtsortes Pirapora do Bom Jesus
organisierte und leitete. Seine Kompositionen errangen weite Verbreitung
in der Region, da auch er entsprechend der damaligen Gewohnheit
dafür sorgte, daß sie einflußreichen Persönlichkeiten oder einzelnen
Städten oder Kapellen gewidmet waren. Zu nennen sind z.B. die
Mazurka "Lua atrás da Torre", die dem Geistlichen Conêgo Ascário
Correa aus Jundiaí gewidmet war, und der Walzer "Porque está s
triste"für die Stadt Santana do Parnaíba und das "Cinema Rink".
Zu den bekanntesten Kompositionen von Juca Bolinho gehörte das
Geburtstagslied "Votos de Felicidades".
Er spielte aber vor allem eine bemerkenswerte Rolle in der Geschichte
des Prozesses der Durchsetzung kirchenmusikalischer Reformen im
Hinterland Brasiliens. Er versuchte zwar, den neuesten Bestrebungen
innerhalb der Kirchenmusik zu folgen, sie zu verwirklichen und
den Wünschen der Hierarchie nachzukommen, und kopierte und kaufte
neue Kirchenmusik von italienischen, deutschen und brasilianischen
Komponisten, die mit der Bewegung der Erneuerung der Kirchenmusikpraxis
in den Kirchen verbunden waren, welche auf eine Abschaffung der
Instrumentalmusik, der Musik theatralischen und lyrischen Charakters
sowie von Adaptationen weltlicher Musik drang. Juca Bolinho bearbeitete
jedoch die rezepierten Werke nach den Kriterien seiner eigenen
Tradition der Blaskapellenmusik, d.h. er versah sie mit Orchesterbegleitung,
bereicherte sie mit effektvollen Passagen und Soli und beraubte
sie so gerade jener Charakteristika, die sie exemplarisch machen
sollten! Zu diesen Bearbeitungen zählen eine Komposition für den
Marienmonat für Blaskapelle und solistische Saxophone, ein Arrangement
des "Salutaris" von Padre J. Batista Siqueira von 1909 sowie viele
Ave-Maria-Kompositionen, Jaculatórias, Litaneien u.a. Er orchestrierte
nach der Art der Blaskapellenmusik Werke von Perosi und Pedro
Rota, einem Salesianer, dessen Werke als Beispiel des neuen, strengen
Stils durch die Zeitschrift "Santa Cruz" verbreitet wurden, sowie
von Haller und F. Franceschini, dem Domkapellmeister von São Paulo
und wichtigsten Vertreter der kirchenmusikalischen Restauration.
Daneben kopierte und bearbeitete er aber auch alte Werke des strengen
Stils aus der lebendigen Tradition, wie die "Motetos dos Passos",
die er noch 1925 mit einer Instrumentalbegleitung versah.
Über Jundiaí pflegte Bragança Kontakte nicht nur zu sozial und
kulturell besser gestellten Zentren der Kirchenmusikpflege des
Hinterlandes von São Paulo wie Itú, wo die renommierten Kapellmeister
und Komponisten Elias Álvares Lobo und Tristão Mariano da Costa
wirkten, sondern auch zu einem Netzwerke von Kirchenmusikern einfachster
sozialer Stellung, die im allgemeinen Farbige waren, gleichsam
Vertreter einer Subalternität der Peripherie des Provinziellen.
Zu ihnen zählte Manoel dos Passos, dessen kirchenmusikalische
Kompositionen hybriden Stils die Nähe zur Blaskapellenmusik und
zur Unterhaltungsmusik der Zeit offenbaren. Synkopierte Tanzrhythmen
ließen sich hier selbst bei Vertonungen des Agnus Dei spüren,
wenn die Instrumente zwischen den gesungenen Partien größere Freiheit
erhielten.
Die größere Mobilität von Musikern und Lehrern durch die Eisenbahn
wird besonders ersichtlich in der Tätigkeit des Klavierlehrers
João Firmino de Araújo, dessen Name in den Verzeichnissen der
Zeit 1885 in Mogí Guaçú und Mogi Mirim sowie 1887 in Jundiaí erscheint.
Die musikalischen Bindungen zu Atibaia waren offenbar die ältesten,
da sie auf die Zeit vor dem Bau der Eisenbahn zurückgingen und
durch diese nur verstärkt wurden. Die wichtigste Musikkapelle
dieser Stadt war die "Sociedade Musical de Atibaia", die in den
siebziger Jahren der Leitung von Hilário Beraldo de Vasconcellos
unterstand. Zu dieser später als "Sociedade Musical Atibaiana"
bekannt geworden Kapelle gehörten in den achtziger Jahren u.a.
João Pedro de Morais, Antonio Ramos da Fonseca und José Antonio
de Camargo. Von den Kompositionen, die aus Atibaia stammten und
in Bragança Paulista gespielt wurden, sei hier die Polka "Lundu"
von João Pedroso de Oliveira Moraes aus dem Jahre 1878 genannt,
ein bemerkenswertes Beispiel hybrider Kompositionen, das europäische
und brasilianische Tanztraditionen in sich vereint. Diese damit
dokumentierte Beziehung zwischen Polka und Lundu in der Region
von Bragança Paulista verdient eine besondere Beachtung in der
Musikgeschichte der Unterhaltungsmusik Brasiliens, da sie Verschmelzungsprozesse
musikalischer Elemente unterschiedlicher Herkunft erkennen läßt,
die Klarheit über generative Vorgänge von Stilen ermöglichen,
welche später charakteristisch für eine Nationalidentität in der
Musik geworden sind.
An der letzten Station der Nebenstrecke der Eisenbahn von Bragança,
nämlich Santo Antonio da Cachoeira, heute Piracaia, wirkte in
den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Samuel Augusto da
Cunha Freire als Leiter der dortigen Blaskapelle. Auch hier dienten
die Blaskapellen der Repräsentation der politischen Organisation
der Gemeinschaft. Wie in anderen Städten des Staates São Paulo
konzentrierte sich das soziokulturelle Leben weltlichen Charakters
in Clubs von Gleichgesinnten. Ein Beispiel der Demokraten-Clubs
war derjenige von Serra Negra, dessen Kapelle um die Jahrhundertwende
von Carlito Fagundes geleitet wurde. Serra Negra gehörte kulturell
zum Ausstrahlungsbereich von Socorro, dessen Musikleben vor allem
von Anacleto Olindo de Camargo und Francisco A. Pulino geprägt
wurde. Unter den Städten dieser Region verdient Amparo wegen den
populären Musikapellen "Euterpe Amizade", "Sociedade Musical Sant'Anna
da Pedreira", "Euterpe Amparense" und "Artística Amparense" eine
besondere Erwähnung. In dieser Stadt wirkten der im ganzen Hinterland
von São Paulo renommierte deutsche Klavierlehrer Theodor Jahn
sowie der Komponist und spätere Gouverneur des Staates Carlos
de Campos (1866-1927).
Einer der wichtigsten Namen der Blaskapellenforschung in einer
"Geschichte von unten" Brasiliens ist Veríssimo Augusto Gloria,
der während seines ganzen Lebens in stetem Kontakt zu Bragança
blieb. Aus einfachen, wegen der Hautfarbe unterprevilegierten
sozialen Schichten stammend, wurde Gloria zu den einflußreichsten
Musikern aus Bruderschaften von Schwarzen und Mulatten São Paulos,
wie der Bruderschaft von Nossa Senhora dos Remédios. Die "Banda
do Veríssimo" erlangte nicht nur in São Paulo, sondern auch in
mehreren Städten des Hinterlandes Berühmtheit, unter ihnen auch
in Bragança, wo sie regelmäßig zum Anlaß religiöser Feste und
zu Karneval auftrat. Im Jahr 1900 wurde sein "Tango Fenianos"
zum Schlager beim Karneval von Bragança.
[
]
1 A.A.Bispo, "Difusão Musical e Pesquisa" (1969), Brasil/Europa & Musicologia, Anais de Ciência Musical da Akademie Brasil-Europa für Kultur-und Wissenschaftswissenschaft, hg. v. H. Hülskath, Köln, 1999, 92-94.
2 A. A. Bispo, "Levantamento de Documentação Histórico-Musicológica" (1974), Brasil/Europa & Musicologia, op.cit., 190-194.
3 In der Reihe Kölner Beiträge zur Musikforschung (108), Regensburg, 1980.
4 A. A.Bispo, "Achegas para a História da Música de Banda no Litoral Sul da Bahia no seu Relacionamento com a Vida Musical do RecÔncavo Baiano", Correspondência Musicológica 5-3(1990), 17-21.
5 A. A. Bispo, "Vias de Comunicação no Estudo Histórico-Musical do Processo de Difusão Cultural", Correspondência Musicológica 6 (1990), 1-6.
6 Adolpho Augusto Pinto, História da Viação Pública de São Paulo, introdução e notas Célio Debes, 2. Aufl., São Paulo, 1977 (Coleção Paulística II), 57-58 u. 241; Joaquim Floriano de Godoy (1862-1902), A Província de S. Paulo: Trabalho Estatístico, Histórico e Noticioso, 2. Aufl., Faks., São Paulo, 1978 (Coleção Paulística XII), 103.
7 Zur älteren Geschichte von Bragança Paulista: Manuel E. de Azevedo Marques, Apontamentos Históricos, Geográ ficos, Biográ ficos, Estatísticos e Noticiosos da Província de São Paulo I, São Paulo, 1953, 148 ff.
8 Daten für eine Sozialgeschichte von Bragança im 19. Jahrhundert u.a. in Daniel Pedro Müller (1775-1842), Ensaio dum Quadro Estatístico da Província de São Paulo, ordenado pelas leis provinciais de 11 de abril de 1836 e 10 de março de 1837, 3. Aufl., Faks., São Paulo, 1978 (Coleção Paulística XI),
9 Zu den vom Verfasser orientierten Forschungsarbeiten hierzu: Boletim da Sociedade Brasileira de Musicologia 3 (1986), insbesonders Elines Lúcia Marchesoni, "A Associação Musical 15 de Outubro de Bragança Paulista", 73-82
Musik, Projekte und Perspektiven. A.A. Bispo u. H. Hülskath (Hgg.).
In: Anais de Ciência Musical - Akademie Brasil-Europa für Kultur-
und Wissenschaftswissenschaft. Köln: I.S.M.P.S. e.V., 2003.
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