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N° 73 (2001: 5)
Brasil 2001 ZUR ERÖFFNUNG EURO-BRASILIANISCHER ARBEITEN IM 21. JAHRHUNDERT 9.-11. Februar 2001
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Univ.-Professor Dr. Klaus Wolfgang Niemöller
Universität zu Köln
Bach hinterließ ein Lebenswerk, das an musikalischer Vielfalt, kompositorischer Qualität und ästhetischem Anspruch kein Vorbild kennt. Die geistlichen und weltlichen Kantaten spielen jedoch in seinem Schaffen eine zentrale Rolle, zumal das Kantatenwerk innerhalb des Bachschen Oeuvres der umfangreichste und vielfältigste Werkbestand ist. Er wird bei den folgenden Überlegungen zu einer zentralen Perspektive eine wesentliche Rolle spielen, nämlich zum übergreifenden konzertierenden Prinzip.
Bachs Lebensweg eröffnete ihm auf den verschiedenen Stationen nach und nach Zugang zu verschiedenen Bereichen der europäischen Musik und ihren musikalischen Gattungen. Denn aus der Tatsache, daß Bach im wesentlichen im mitteldeutschen und norddeutschen Raum lebte, darf man keine falschen Schlüsse ziehen etwa auf eine Art von Provinzialität. Schon früh erhielt er einen Eindruck vom "französischen Geschmack" durch den Besuch der herzoglichen Kapelle in Celle.
Zu Orgel- und Kantaten-Werken trat aber nun in Weimar eine ganz entscheidende neue Begegnung, nämlich mit der neuesten italienischen Musik, dem Concerto. Die gerade unter dem Titel "L'estro armonico" erschienenen Konzerte op.3 von Vivaldi, die der Weimarer Prinz Johann Ernst 1713/14 aus Italien mitgebracht hatte, waren für ihn ein Schlüsselerlebnis. Er machte sie sich nicht nur durch Bearbeitungen zu eigen, sondern sie lehrten ihn auch "musikalisch denken" (Johann Nikolaus Forkel).
In den Weimarer Jahren liegt dann auch der Beginn seiner originalen Konzertkompositionen, die überwiegend jedoch nur in Form eigener Bearbeitungen aus der Leipziger Zeit erhalten sind. In die Weimarer Zeit fällt wohl die Komposition der beiden Violinkonzerte und das Konzert für 2 Violinen. Darüber hinaus spielen verschollene und z.T. rekonstruierte Konzerte eine interessante Rolle. Interessanterweise hat Bach nämlich eigene Konzerte als Vorlagen für Kantatensätze benutzt.
Über die Komposition eigener Konzerte hinaus durchwirkte das konzertierende Prinzip alle Gattungen, z.B. auch die Kammermusik. Der Beginn der 3. Sonate für Viola da Gamba und obligates Cembalo (BWV 1029) klingt nicht nur fast wie der Beginn des 3. Brandenburgischen Konzertes, sondern zeigt auch deutlich die Folge von Ritornell und Soloepisode. Man hat schon vom 7. Brandenburgischen Konzert gesprochen.
Im Zusammenhang der auffälligen Zunahme des Gewichtes der Instrumentalmusik im Kantatenschaffen seit 1713/14 erkannte Bach diese Gattung als ein variables Experimentiertfeld. Prägend wurde dabei im Zusammenwirken von Singstimmen und obligaten Instrumenten das Prinzip des Konzertierens, das bei Bach ein Klangspektrum von großer Breite bewirkte. Nicht von ungefähr benennt Bach seine "Kirchenstücke" nur ausnahmsweise bei einer Solo-Kantate auch "Cantata" (Nr.54), vielfach aber als "Concerto". So beginnen die meisten frühen Kantaten Bach mit einer selbständigen instrumentalen Einleitung, häufig als "Sinfonia" bezeichnet. Im Kantatenschaffen sind immerhin 33 reine Instrumentalsätze überliefert. Die paarweise Zusammenstellung von freien Instrumentalstücken und einer nachfolgenden Vokalfuge als Kantateneröffnung erinnert stark an Bachs bevorzugten Typus in der Orgelmusik, der Folge von Präludium und Fuge. Allein in der Leipziger Zeit sind 11 Sinfonien als Bearbeitungen von Konzerten erkennbar. Für die Kantate "Ich liebe den Höchsten" (Nr.174) hat Bach den 1. Satz des 3. Brandenburgischen Konzertes bearbeitet. Er erhält mit der Hinzufügung von 2 Hörnern und 3 Oboen allerdings nicht nur ein neues Klanggewand, sondern auch eine deutlichere Struktur von der Form des Solokonzerts her. Schon die Behandlung von Violine und Blockflöte in der 1. Weimarer Kantate "Himmelskönig, sei willkommen" (Nr.182) zeigt deutlich Einflüsse des Vivaldischen Konzertes. Der Zusammenhang der einleitenden Sinfonia mit dem Konzert wird schlagartig deutlich, wenn Bach 1726 in der Solokantate "Falsche Welt, dir trau ich nicht" (Nr.52) den Eingangssatz des 1. Brandenburgischen Konzertes benutzt, und zwar in der Frühfassung ohne den Violino piccolo. Die Sinfonia zu der weltlichen italienischen Solokantate Nr.209 ist ein Flötenkonzert, das bereits vor 1730 einen progressiven Still zeigt.
Natürlicher Ort für die konzertierenden Soloinstrumente ist die Arie. Die Solo-Violine in der Choralkantate "Nimm von uns Herr" (Nr.102) ist mit ihren fortlaufenden 16teln typisch für die konzerthaft virtuose Behandlung. Gerade durch den konzertierenden Einsatz der Solo-Instrumente hat Bach den Schematismus der da-capo-Arie auf eigene Weise unterbrochen. Die Singstimme nimmt nicht nur motivische Gedanken des Solinstruments auf, sondern tritt mit ihm auch in einen konzertierenden Dialog, z.B. in der Sopran-Arie "Seufzer, Tränen, Kummer, Not" (Nr.21) mit der ausdrucksvollen Oboen-Kantilene.
Nicht von ungefähr hat Bach 1714 den Eingangschor "Ich hatte viel Bekümmernis" auf ein Thema des Vivaldi-Konzertes op.3, Nr.11 aufgebaut. Ungeachtet der theologischen und gottesdienstlichen Präponderanz der Singstimmen ergibt sich vielfach, daß die Architektonik der Sätze von dem Instrumentalpart her gestaltet ist. Hatte man lange dem Instrumentalpart nur Einleitungs- oder Begleitfunktion zuerkannt, so zeigt sich z.B. an Sätzen auf der Grundlage der französischen Ouvertüre, daß der Vokalpart in den instrumentalen Ablauf eingelagert ist. In seiner 1. Weimarer Kantate vereinigt Bach den speziellen Charakter der Ouvertüre mit der Verwendung der zwei konzertierenden Instrumente (Blockflöte und Violine). Der feierliche Rhythmus ist symbolisch für das Herannahen des Himmelskönigs passend zum Beginn des Kantatentextes "Himmelskönig sei willkommen" (Nr.182). Bach hat dieses französische Ouvertüren-Modell eines Instrumentalsatzes dreimal in Kantaten für den eröffnenden Chorsatz verwendet, und zwar in den Jahren 1714, 1724 und 1734, also im Abstand von jeweils 10 Jahren. Sie fassen damit genau jenen Zeitraum ein, in dem sich ein wesentlicher Teil des Schaffens auch auf die Frage der vokalen Choralbearbeitung konzentriert. Die mittlere der drei Kantate, die Nr. 20 "O Ewigkeit du Donnerwort", eröffnet den Jahrgang der Choralkantaten der Jahre 1724/25, der als Jahreszyklus in der Form und Vielfalt damals einmalig dastand. Die französische Ouvertüre gab Bach Gelegenheit, für den vokalen Vortrag von nur wenigen Choralzeilen eine groß angelegte Form zu finden. Bereits 1714 in der Kantate Nr. 61 "Nun komm der Heiden Heiland" geschah diese Paarung von Choral und Ouverture im Stil der 1. Orchester-Suite in C-Dur in systematischer Weise. Nachdem zum feierlichen Einleitungsteil der Ouvertüre die 1 Choralzeile nacheinander von den einzelnen Stimmen vorgetragen wird, der die 2. Zeile im 4stimmigen Blocksatz folgt, wird im schnellen fugierten Mittelteil der Chor mit der 3. Choralzeile durch die Instrumente klanglich unterstützt.
Damit kommt es nun zu einem fundamentalen Wechsel in der Priorität von Vokalem und Instrumentalem. Das Instrumentale dominiert, es kommt zum sogenannten Vokaleinbau, d.h. die Singstimmen werden in ein Instrumentalstück hineinkomponiert. Die Choralkantate "Nun komm der Heiden Heiland" (Nr.61) zeigt dies mit der französischen Ouvertüre. Zu ihrem feierlichen punktierten Rhythmus betrat der französische König in der Oper seine Loge. Auch Weihnachten zieht ein König ein, so in dieser Adventskantate. Schon in der festlichen Einleitung zur Pfingstkanate von 1714 "Erschallet ihr Lieder" (Nr.172) tritt der Vokalchor als 3. Chor zum doppelchörigen Orchester mit Trompeten- und Streicherchor auf. Zum ersten Mal erprobte Bach wohl 1716 diese Kompositionstechnik des Choreinbaus in einen weiträumigen Eingangssatz der Kantate Nr.70. Als Bach 1724 für die Choralkantate "O Ewigkeit, du Donnerwort" (Nr.20) wieder das Modell der französischen Ouvertüre heranzog, hat er nicht nur chorische Choralzeilen in den langsamen Teil eingelagert, sondern auch dem fugierten Mittelteil einen Choralsatz hinzugefügt, so daß ein Tonsatzgefüge von 11 realen Stimmen resultiert. Man könnte theoretisch die Ouvertüre als reines Instrumentalstück für sich aufführen und ebenso den 4stimmigen Chorsatz. Höhepunkt dieser komplexen Vereinigung von konzertierendem Instrumentalpart und flexibel gestaltetem Chorsatz zu einer kunstvollen Ordnung in vielstimmigem Kontrapunkt ist 1726 der Eingangssatz der Johannes-Passion "Herr unser Herrscher".
Nicht von ungefähr hat Bach in 6 Kantaten der Jahrgänge 1726 und 1728 Sätze aus verschollenen Solokonzerten für Violine oder Oboe übernommen, die wir nur aus seinen eigenen späteren Bearbeitungen als Cembalokonzerte kennen. In den Kantaten nun besetzt Bach interessanterweise das konzertierende Instrument mit obligater Orgel. Schon die Mühlhausener Ratswahlkantate Nr.71 "Gott ist mein König" fügt so in die Tenor-Arie nicht nur einen Sopran mit einem Choral-cantus firmus ein, sondern auch einen konzertanten Orgelpart. Diese Praxis erneuert Bach in Leipzig. Zwischen 1708 und 1737 gibt es nicht weniger als 17 Kantaten mit Orgel solo. Der langsame Mittelsatz des Konzerts BWV 1052 wird so unverändert zur Grundlage des Eingangschores "Wir müssen durch viel Trübsaal" der Kantate Nr.146. Den ersten Satz des späteren Cembalo-Konzertes BWV 1053 hat Bach als Sinfonia der Kantate 169 verwendet und dabei die höchst verfeinerte melodische LInienführung in der Orgelstimme sorgfältig phrasiert. In dieser Kante "Gott soll allein mein Herze haben" tritt die konzertierende Orgel auch in zwei Arien für Alt obligat auf. Die Arie "Stirb in mir Welt" hat Bach in kunstvoller Weise die Singstimme in den bereits existierenden Satz des verschollenen Instrumentalkonzertes hineinkomponiert.
Noch deutlicher wird Bachs Bemühen um eine komplexe, groß angelegte Konzertsatzstruktur in der weltlichen Kantate, dem Dramma per musica "Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten", einer Geburtstagskantate von 1726. Der Eingangschor ist eine Umformung des 3. Satzes aus dem 1. Brandenburgischen Konzert. An die Stelle von 3 Hörnern treten Trompeten mit Pauke, den 3 Oboen sind noch zwei Flöten hinzugefügt. In diesen vorgegebenen Rahmen einer komplexen Partitur mit vielen Instrumenten hat Bach nun den Vokalpart einkomponiert. Dies geschieht in solcher Meisterschaft, daß der Eindruck einer einheitlichen Gestaltung entsteht, so als ob der Chor von Anfang an dazu gehört hätte. Ähnliches geschieht in der Kantate Nr. 52 mit dem 1. Satz des 1. Brandenburgischen Konzertes.
Mit diesen Hinweisen ist die wichtige Bedeutung des konzertierenden Prinzips in den Kantaten deutlich angezeigt. Bachs besondere Meisterschaft in der Kunst eines harmonischen Kontrapunktes mit vielen selbständigen und konzertierenden Stimmen, wie sie besonders in den Kantaten und Oratorien zum Vorschein kommt, resultiert aus lebenslanger Arbeit. Schließlich wies Bach 1736 in seiner Angabe an den Leipziger Rat darauf hin, daß die Kirchenstücke von seiner eigenen Komposition "ohngleich schwerer und intricater sind", und Carl Philipp Emanuel Bach hatte 1754 in seinem Nekrolog von der "beständigen Uebung in [der] Ausarbeitung vollstimmiger Stücke" gesprochen und resumiert: "Hat jemals ein Componist die Vollstimmigkeit in ihrer größten Stärke gezeiget; so war es gewiß unser seeliger Bach."
Literaturhinweise:
Reinmar Emans: Überlegungen zu den Konzert- und Instrumentalsätzen
in Johann Sebastian Bachs Kantaten, in: Beiträge zur Geschichte
des Konzerts. Festschr. Siegfried Kross, Bonn 1990, S. 41-56
Friedhelm Krummacher: Bachs Zyklus der Choralkantaten, Göttingen
1995 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften
Hamburg Nr.81)
Arno Forchert: Johann Sebastian Bach und seine Zeit, Laaber 1999,
S. 208-214
Die Welt der Bach Kantaten, hrsg. Christoph Wolff, Bd.I-III, Stuttgart-Kassel
2000