Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria científica
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N° 70 (2001: 2)


 

Brasil 2000
Colóquio/Kolloquium

J.S.BACH-H.VILLA-LOBOS
Interpretações e Perspectivas do Barroco
Deutungen und Perspektiven des Barock

31. Mai - 2. Juni 2000

Akademie Brasil-Europa
ISMPS/IBEM

 

Wissenschaftliche Leitung Dr. A. A. Bispo- Org. Dr. H. Hülskath

em cooperação com/in Zusammenarbeit mit:

Musikwissenschaftliches Institut der Universität zu Köln - Hauptseminar "Die Musik Brasiliens"

 

VILLA-LOBOS, DIE GITARRE UND DER BAROCK

Rolf Bäcker, I.S.M.P.S. e.V.

 

I. Einführung

"The guitar and J.S. Bach were the Villa-Lobos biggest passions." - das stellte Orlando Fraga in seinem Überblick über die Gitarrenmusik Heitor Villa-Lobos' fest(1). Und in der Tat spielten beide Phänomene entscheidende Rollen in Villa-Lobos' musikalischer und persönlicher Entwicklung - die Gitarre möglicherweise mehr als Johann Sebastian Bach.

Wie er selbst im Interview mitteilt(2), fand sein erster Kontakt mit diesem Instrument im Alter von sieben oder acht Jahren statt, nachdem er zuvor durch seinen Vater Raúl, einen passionierten Cellisten, auf dem Cello unterrichtet worden war. Im Gegensatz zu diesem Instrument jedoch geschah die Beschäftigung mit der Gitarre in einem völlig anderen Zusammenhang: Zum einen stieß Villa-Lobos' Interesse für dieses Instrument (und für die Musik im allgemeinen) nach seines Vaters Tod 1899 auf nur wenig Gegenliebe bei seiner Mutter, die den Beruf des Arztes eher für standesgemäß hielt(3), so daß sich der junge Heitor gezwungen sah, heimlich bei einem Nachbarn Unterricht zu nehmen(4). Zum anderen war die musikalische Ebene, auf der er sich zunächst mit der Gitarre beschäftigte, nicht die der ernsten, "gebildeten" Musik, der música erudita, sondern die der urbanen Popularmusik aus dem Rio de Janeiro der Jahrhundertwende, die vor allem geprägt wurde durch ein Phänomen, dessen Einfluß auf das Werk des brasilianischen Komponisten gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, zumindest, was die Gitarre angeht: die chôros. Erst nachdem er sich also in der Gesellschaft der chôro-Musiker, der sog. chor?es, deren Wohlwollen er sich durch das Ausgeben von Getränken vom Geld seines Erbes gleichsam "erkauft", die Formeln der begleitenden und solistischen Improvisation angeeignet hatte - wohl mit Erfolg, wie seine Aufnahme als Gitarrist in die Band Quincas Laranjeiras'(5) nahelegt(6) - widmete er sich auch der ernsten Musik. Anstatt sich jedoch mit der klassischen Gitarrenliteratur zu beschäftigen und Werke Fernando Sors, Ferdinando Carullis, Matteo Carcassis und Mauro Giulianis zu studieren, wie er es ab 1907 dann auch tat(7), fertigte er zunächst Bearbeitungen für Gitarre anderer Werke an, so für zwei Walzer und das F-Dur Präludium Chopins und als erster für die Chaconne für Violine solo Johann Sebastian Bachs(8), wovon leider keine Manuskripte zeugen.

Hier tritt zum ersten Mal die Begeisterung für einen der wichtigsten deutschen Barockkomponisten explizit zutage, interessanterweise in engem Zusammenhang mit der Gitarre. Wie stark Villa-Lobos' Affinität zu Bach ausgeprägt war, belegen diverse Äußerungen des Komponisten selbst, deren berühmteste vielleicht jene Antwort auf die Frage nach den größten Komponisten war: "Bach und ich". Was jedoch andere Beispiele vielleicht noch besser zeigen, ist der Kontext, in dem Villa-Lobos Bach sah und verstand: Für den Brasilianer, dessen musikalische Erfahrungen sich auch und vor allem auf Popular- und Volksmusik ausdehnten, war Bach "eine universelle Quelle der Folklore"(9), und "die hauptsächliche technische und psychologische Inspiration für Bachs monumentales Werk basiert auf dem freien Lied des Landes, einer spontanen Schöpfung einfacher, unkonventioneller Menschen"(10). Dieses Bachverständnis - inwieweit es richtig oder eine subjektive Interpretation Villa-Lobos' ist, soll nicht Gegenstand dieser Überlegungen sein - gewinnt unter zwei Gesichtspunkten an Bedeutung: Zum einen stützt es in Verbindung mit einem anderen berühmt gewordenen Zitat, nämlich "Die Folklore bin ich.", die Aussage, daß es sich bei den beiden größten Komponisten um Bach und ihn selbst handelt, wie pointiert sie auch zu verstehen sind. Zum anderen erlaubt es den Blick auf eine Verbindung, die bisher von der Forschung kaum beachtet worden ist und in deren Mittelpunkt die Gitarre steht.

Bevor jedoch die Gitarrenmusik Villa-Lobos im Spannungsfeld zwischen Barock und Folklore näher beleuchtet wird, sollen zunächst offensichtlichere Verbindungen betrachtet werden, wie sie in der wissenschaftlichen Literatur bisher aufgetaucht sind.

 

II. Der Barock und Villa-Lobos' Gitarrenmusik - Einflüsse und Übereinstimmungen

Auf vielerlei Ebenen manifestiert sich Villa-Lobos' Affinität zum Barock und insbesondere zu Johann Sebastian Bach auch in seinen Kompositionen für Gitarre. Der offensichtlichste Hinweis darauf ist mit Sicherheit in terminologischen Anspielungen zu sehen, wie sie die Titel und Untertitel verschiedener Werke offenbaren, z.B. die Aria aus der Bachiana Brasileira No. 5. Bei diesem Stück handelt es sich um eine Bearbeitung für Gitarre und Sopran eines Satzes aus einem für Singstimme und acht Violoncelli bestimmten Werk, in Auftrag gegeben von der Sängerin Olga Praguer Coelho. Neben den Eigenschaften, die allen Bachianas Brasileiras zu eigen sind und auf die hier verständlicherweise nicht näher eingegangen werden soll, offenbart sich in diesem Stück noch eine andere Parallele Villa-Lobos' zu verschiedenen Komponisten des Barock, u.a. auch zu Johann Sebastian Bach, nämlich die vielfache Neuinstrumentierung von Werken, woraus laut Lisa Peppercorn geschlossen werden kann, "daß die Wahl des Instrumentes oder des Ensembles für den Komponisten oft ganz nebensächlich war und er nur Melodien und Kompositionen niederschreiben wollte, um ihnen später einmal die eine oder andere Form zu geben."(11). Es liegt sicherlich nicht allzu fern, in dieser Sichtweise neben einem Barockeinfluß auch ein Resultat seiner spezifischen Vorgehensweise beim Erlernen der Gitarre durch Bearbeitungen anderer Kompositionen zu sehen.

Einen weiteren Hinweis begrifflicher Natur bietet die Gavotta-Chôro aus der Suite Popular Brasileira. Obwohl der Begriff Gavotte in Frankreich schon Ende des 16. Jahrhunderts belegt ist, geschah es doch erst im Barock, daß sie von François Couperin und Johann Sebastian Bach in die instrumentale Suite aufgenommen wurde und u.a. unter Lautenisten an Popularität gewann(12). Villa-Lobos Gavotta-Chôro hat jedoch von der barocken Gavotte nicht mehr als den "alla breve" Takt und die heitere Stimmung übernommen(13).

Ähnlich wie die Bachianas Brasileiras bezieht sich auch das Präludium Nr. 3 expressis verbis auf den großen Barockkomponisten, nämlich in ihrem Untertitel "Hommage ‡ Bach". Im Gegensatz zur Gavotta-Chôro ist hier die Beziehung zum (Unter-)Titel leichter nachzuvollziehen, zum einen durch die toccatenähnliche Form, zum anderen durch eine Melodiebildung im zweiten Teil, die aus einer absteigenden Tonfolge und einem Pedalton im Sopran besteht(14).

Neben diesen Hinweisen auf den Barock, die Villa-Lobos selbst durch die Wahl der Titel gibt, finden sich noch weitere, wenn auch weniger direkte, in den Douze …tudes.

Diese Sammlung von Übungsstücken, die Villa-Lobos zwischen 1924 und 1929 auf Anfrage seines Freundes, des berühmten andalusischen Gitarristen Andrés Segovia schrieb, nimmt in des Komponisten Werk für Gitarre eine Sonderstellung ein: Villa-Lobos tritt dort den Beweis dafür an, daß er nicht nur ein außergewöhnlicher Komponist, sondern auch ein brillanter Gitarrist war. So ist vielfach, u.a. von Hector Berlioz, festgestellt worden, daß nur jemand für Gitarre komponieren könnte, der dieses Instrument auch beherrschte; um jedoch einen Meilenstein vom Format der zwölf Etuden, der die Technik auf der Gitarre so nachhaltig verändern und erweitern würde(15), zu schreiben und das Ergebnis nicht in kompositorisch minder interessante technische Übungen ausarten zu lassen, brauchte es mehr als das. Gestützt wird dieser Eindruck durch diverse Berichte, so z.B. von seiner ersten Frau LucÌlia Guimar?es, hier wiedergegeben durch Lisa M. Peppercorn:

Sie war gerade in ihrer musikalischen Ausbildung begriffen, als man sie auf einen jungen Musiker aufmerksam machte, der anders Gitarre spielte, [sic!] als die anderen und versuchte, besondere Klangkombina-tionen auf diesem Instrumente hervorzu-bringen. So lernte sie Villa-Lobos bei einer Gelegenheit kennen, bei der er im Freundes-kreis auf seiner Gitarre Improvisationen zum besten gab.(16)

Aus dieser Textstelle geht, neben seiner Improvisationsfertigkeit und der Beherrschung des Instruments, auf die man rückschließen kann, auch seine Eigenwilligkeit in technischer Hinsicht hervor, die sicherlich ein Resultat der angefertigten Bearbeitungen während der Lehrzeit sind, und schließlich zu einem Bestreben der Ausweitung der technischen Grenzen des Instruments führte, das in den Etüden klar erkennbar ist und sich z.B. auch in einer Gitarre aus seinem Besitz widerspiegelt, die über 21 Bünde verfügte, um das hohe c# noch erreichen zu können(17). In der Reibung am Virtuosen Andrés Segovia wird seine Andersartigkeit besonders deutlich, z.B., wenn er auf die Bemerkung Segovias, der kleine Finger der rechten Hand würde eigentlich nicht benutzt, antwortete, dann sollte man ihn abschneiden(18). Geradezu berühmt geworden sind die Auseinandersetzungen der beiden um die Spielbarkeit, deren Erwähnung in keinem CD-Begleitheft fehlen darf. Ausgangspunkt dabei war die Bemerkung Segovias, bestimmte Dinge könnte man auf der Gitarre nicht realisieren, was Villa-Lobos energisch zurückwies, um zur Untermauerung die betreffende Stelle selbst zu spielen(19). Dies sollte jedoch nicht zu der Annahme verleiten, die Beziehung der beiden Musiker zueinander hätte nur aus Streit und Auseinandersetzung bestanden; vielmehr wurden diese Differenzen ausgeglichen durch gewisse Gemeinsamkeiten, so die Hinwendung zum favorisierten Instrument gegen den Willen der Eltern und die Verehrung Bachs(20).

Die Einflüsse des Barock im allgemeinen und Bachs im besonderen reduzieren sich weitestgehend auf die erste Etüde in E-Moll; nichtsdestominder zieht Dirk Zdebel in seiner Serie von Artikeln unter dem Titel "Bach und ich"(21) eine Parallele zu Chopins zwölf Etüden für Klavier op. 10, bei denen er die Anzahl und den Charakter einer Zerlegungsstudie der ersten Etüde in C-Dur sowie die Anordnung am Modell des Quintenzirkels hervorhebt. Villa-Lobos' zwölf Etüden beginnen auch mit einer Zerlegungsstudie, diesmal in der Tonart E-Moll, die für die Gitarre ebenso perfekt geeignet ist wie C-Dur für das Piano. Die Anlage ist bei Villa-Lobos ein wenig modifiziert zugunsten der Spielbarkeit auf der Gitarre - es kommen vor allem Tonarten und deren Parallelen vor, die den Einsatz von Leersaiten im Baß erlauben; zudem spiegeln die ersten vier Etüden in ihren Tonarten die Stimmung der vier tiefen Saiten der Gitarre wieder: E (Moll), A (Dur), D (Dur), G (Dur)(22). Die Tatsache, daß sich Chopin mit seinen 24 Präludien nach dem Vorbild Bachs richtet, schlüge dann die Brücke von jenem Komponisten zu Villa-Lobos, was allerdings angesichts des verschlungenen Weges (immerhin geschieht die Verbindung über zwei verschiedene Werke Chopins, die in den entscheidenden Punkten auch noch differieren) und der nur sehr lockeren Einhaltung des Quinten- bzw. Quartenzirkelschemas durch Villa-Lobos nicht unbedingt zwingend erscheint. Auch der Vergleich mit dem Präludium C-Moll BWV 999, den Zdebel weiter unten zieht, wirkt zwar ob der Ähnlichkeiten in Klangbild und Spielfluß naheliegend, jedoch ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß Villa-Lobos sich mit den Lautenkompositionen Bachs beschäftigt hat, da sie im Gesamtwerk nur eine Randerscheinung darstellen und als Grundlage für etwaige Bearbeitungen für Gitarre wahrscheinlich eine zu geringe Distanz von diesem Instrument bieten.

Insgesamt gesehen bieten sich Einflüsse Bachs und des Barock in Villa-Lobos' åuvre vor allem dann, wenn der Komponist explizit, also im Titel, darauf verweist; an anderen Stellen bleiben die Parallelen eher vage und sind schwer nachzuweisen. Noch schwieriger sind Belege, begibt man sich auf ein Gebiet, das bisher in diesem Zusammenhang so wenig von der Wissenschaft beachtet wurde wie die Volks- und Popularmusik Brasiliens.

 

III. Villa-Lobos und die Traditionen der brasilianischen Gitarre - ein verborgener Einfluß?

Wie sehr Villa-Lobos in seiner Jugendzeit unter dem Einfluß der Popularmusik und insbesondere der chôros stand, ist oben schon angeklungen und bildet auch einen Gemeinplatz in der Literatur; inwieweit hingegen dies konkret Auswirkungen auf sein Gitarrespiel hatte, wird meistens ein wenig vernachlässigt. Eine Ausnahme dabei bildet Orlando Fragas schon erwähnter Artikel Heitor Villa-Lobos: A Survey of his Guitar Music(23), wo sich der Autor bei der Betrachtung der fünften Etüde an die viola caipira erinnert fühlt, bedingt durch die "tiefe Melancholie" einer "modalen Melodie"(24). Dabei bietet gerade Brasilien eine Fülle verschiedener Gitarrenformen, von denen Villa-Lobos, neben der klassischen Form, die in Brasilien viol?o heißt, mindestens zwei kannte: Zum einen kam er als chor?o auch in Kontakt mit dem cavaquinho, einem viersaitigen Instrument, das etwas kleiner als die Gitarre ist und in der Stimmung d - g - h - d' gespielt, zu vielen chôro-Ensembles dazugehörte(25). Zum anderen hatte er auch Kenntnis von der viola, über die er in einem Interview mit Ralph J. Gladstone ausführlich spricht(26). Dabei handelt es sich um ein fünfchöriges Instrument, das in der Größe zumeist zwischen violão und cavaquinho liegt und in Brasilien in verschiedenen Formen verbreitet ist, von denen er einige während seiner ausgedehnten Reisen kennengelernt haben müßte; die von Orlando Fraga erwähnte viola caipira ist eine davon. Gemeinsam haben alle diese Zupfinstrumente, daß sie von den Portugiesen in Amerika eingeführt worden sind. Die genaue Entwicklungsgeschichte der violas ist nur sehr schwer nachzuvollziehen, vor allem aufgrund der begrifflichen Konfusion, die sich durch die Existenz von verschiedenen Namen für ähnliche, aber in wichtigen Punkten verschiedene Instrumente ergibt, so die spanische vihuela, etymologisch auf dieselbe Wurzel zurückgehend wie die portugiesische viola, und die guitarra, die im portugieschen Sprachraum ein cisterartiges Instrument bezeichnet, das mit der in anderen Sprachen verbreiteten Gitarre nicht viel zu tun hat. Für das Thema dieser Überlegungen von Bedeutung ist nun, daß verschiedene Wissenschaftler die viola caipira in Verbindung bringen mit der Barockgitarre(27).

Im 16. Jahrhundert existierten auf der Iberischen Halbinsel noch vihuela de mano und guitarra nebeneinander, allerdings mit relativ klar abgegrenzten Bereichen: Während nämlich auf der ersteren anspruchsvolle Polyphonie intoniert wurde - davon zeugen heute leider nur noch wenige, dafür aber um so aussagekräftigere Werke wie z.B. Luys de Miláns El Maestro von 1536, Luys de Narváez' Seys libros del DelphÌn de la música von 1538 und Alonso Mudarras Tres libros de música en cifras para vihuela von 1546 - diente die letztere zur akkordischen Begleitung vokaler meist volkstümlicher Stücke. Dieser Unterschied in der Verwendung spiegelte sich natürlich auch im Instrument und dessen Spieltechnik wieder; so verfügte die vihuela schon im 16. Jahrhundert über sechs oder sogar sieben Saiten, die mit der Technik des punteo "gezupft" wurden, d.h. einzeln mit den vier Fingern der rechten Hand in einer nach innen gerichteten Bewegung - mit Ausnahme des kleinen Fingers. Im Gegensatz dazu wurde die Vierzahl der Saiten der guitarra erst Ende des 16. Jahrhunderts um eine fünfte erweitert, die im rasgueo mit bisweilen allen Fingern der rechten Hand "geschlagen" wurden, d.h. in Auf- und Abwärtsbewegungen über mehrere Saiten, während die linke Hand - wenn möglich - vollstimmige Akkorde griff. Einen guten Einblick in diese Spielweise gibt der katalanische Arzt und Gitarrist Joan Carlos Amat in seinem Lehrbuch Guitarra Española de cinco órdenes, zuerst veröffentlicht in Barcelona 1596(28).

Interessanterweise läßt sich die guitarra inklusive ihres Repertoires und ihrer Spieltechnik in verschiedenen Traditionen in Lateinamerika wiederfinden, am deutlichsten vielleicht im Falle des venezolanischen cuatro, in dem sich sowohl die Stimmung, nämlich der von Mudarra in seinem bereits erwähnten Werk Tres libros de música en cifras para vihuela erwähnte temple nuevo a - d - f# - h, als auch die Spieltechnik des rasgueo, als auch bestimmte Akkordfolgen erhalten haben(29). Leider mangelt es bis jetzt an vergleichbaren Betrachtungen im Zusammenhang der brasilianischen viola; es gibt zwar Untersuchungen zu organologischen Gesichtspunkten, z.B. Rossini Tavares de Limas Estudo sôbre a Viola(30) oder Luiz Heitor Corrêa de Azevedos La guitare archaïque au Brésil(31), jedoch wurden bislang keine weitergehenden Untersuchungen im Hinblick auf Spieltechnik, Repertoire, etc. unternommen, um mögliche Zusammenhänge mit europäischen Phänomenen aufzudecken. Gerade im Bereich Brasiliens eröffnet sich für die Gitarrenforschung ein weiterer vielversprechender Weg: So ist die viola caipira sehr stark eingebunden in religiöse Vorstellungen, die sich am stärksten in der Figur des São Gonçalo do Amarante manifestieren, eines portugiesischen Heiligen, der in Portugal in Vergessenheit geraten ist, in Brasilien jedoch noch starke Verehrung genießt und als Schutzpatron der Musiker im allgemeinen und der Gitarristen im besonderen immer in Verbindung mit der viola dargestellt wird. Auf diesem Wege ergeben sich weitere zahlreiche Hinweise auf mythologische Phänomene in engstem Zusammenhang mit der Gitarre, die erst einmal einer wissenschaftlichen Betrachtung unterzogen wurden, nämlich während eines von Dr. Antonio Alexandre Bispo geleiteten Symposiums 1997 in Joanópolis.

Ob Heitor Villa-Lobos auf diesem Gebiet weiterreichende Kenntnisse hatte, ist schwer nachzuvollziehen; daß er jedoch Gelegenheit hatte, sich mit den verschiedenen Formen der brasilianischen Gitarre zu beschäftigen und zudem auf diesem Gebiet gesteigertes Interesse zeigte, ist oben schon angeklungen und wird unterstützt durch eine Komposition für Klavier, die den bezeichnenden Titel Viola trägt - die Noten befinden sich in der Bibliothek des I.S.M.P.S.e.V. - und eine nicht nur für Villa-Lobos frühe Beschäftigung mit diesem Thema darstellt. Durch eine detaillierte Untersuchung der brasilianischen Gitarre in allen ihren Aspekten organologischer, spieltechnischer und vor allem mythologischer Natur und einem darauffolgenden Vergleich mit Villa-Lobos' Werk lassen sich demnach mit Sicherheit noch Parallelen finden, die ein neues Licht auf den Gitarristen Heitor Villa-Lobos werfen.


(1) Fraga 1996, auf die Angabe von Seiten- und Zeilenzahl wird aufgrund des Mediums - es handelt sich um eine Internetseite - verzichtet.
(2) Cf. Gladstone 1957, S. 13.
(3) Cf. Gladstone op.cit.: "It was the good Senhora's conviction that the pursuit of music was beneath the station of a Villa-Lobos." (S. 13, Z. 14ff.).
(4) Cf. Fraga op.cit., S. 1.
(5) Mit bürgerlichem Namen Joaquim dos Santos, seines Zeichens Gitarrist, cf. Zdebel 1986, S. 24.
(6) Cf. Fraga op.cit., S. 2.
(7) Cf. ibid.
(8) Cf. Zdebel 1986, S. 26.
(9) Cf. Heller 1989, S. 19 linke Spalte, Z. 4f.: "universal fountain of folklore". Leider macht der Autor keine bibliographischen Angaben über die Herkunft des Zitates.
(10) Cf. Hodel 1987, S. 14 rechte Spalte, Z. 4-7: "The main technical and psychological inspiration of Bach's monumental opus [...] is based in the free song of the land, a spontaneous creation of simple, unconventional men." Auch hier verzichtet der Autor leider auf die Erwähnung der Quelle.
(11) Cf. Peppercorn 1972, S. 40, Z. 4-7. Ähnlich äußert sich Moser 1987: "Eine schöpferische Idee scheint bei ihm - wie bei seinem Vorbild Bach - nicht in erster Linie an Klangfarben und instrumentale Eigenheiten gebunden." (S. 18, Z. 17-21).
(12) Cf. Pereira 1984, S. 92.
(13) Cf. Zdebel op.cit., S. 32.
(14) Cf. Fraga op.cit., S. 12 und Camilletti 1987, S. 15.
(15) Brian Hodel (1988) vergleicht die Bedeutung der Etüden Villa-Lobos' mit der Liszts, Chopins und Scarlattis für die Pianisten und der Paganinis für die Violinisten (S. 23).
(16) Peppercorn op.cit., S. 30, Z. 1-6.
(17) Eine normale klassische Gitarre verfügt im Bereich der hohen e-Saite über nur 19 Bünde; cf. Gladstone op.cit.
(18) Cf. Zdebel op.cit., S. 28.
(19) Cf. z.B. Asketorp 1994.
(20) Cf. Camilletti op.cit., S. 12.
(21) Teil 3, in: Gitarre und Laute 9/2 (1987)
(22) Cf. ibid., S. 52.
(23) Op.cit.
(24) Cf. Fraga op.cit., S. 8.
(25) Für nähere Informationen zu diesem Instrument cf. Ikeda, Alberto, Weine Cavaco, klage Cavaquinho!!!, in: Musices Aptatio 1989/90.
(26) Cf. Gladstone op.cit.
(27) Z.B. die brasilianische Gitarristen Cristina Azuma, cf. Muttray Kraus 2000.
(28) Cf. Pujol 1950.
(29) Cf. Plisson 1997 und Ramón y Rivera 1981.
(30) in: Revista Brasileira de Folclore 8/10 (1964)
(31) in: Studia Memoria Belae Bartók Sacra, Budapest 1956


Verzeichnis der verwendeten Literatur

Asketorp, Bodil, Begleittext zu: Miolin, Anders, Heitor Villa-Lobos. The Complete Works for Solo Guitar (Tonträger), Djursholm 1994

Azevedo, Luiz Heitor Corrêa de La guitare archaïque au Brésil in: Studia Memoria Belae Bartók Sacra, Budapest 1956
Camilletti, Simonetta, Heitor Villa-Lobos e la chitarra. Parte seconda: le opere, in: Il Fronimo 15/60 (1987)

Fraga, Orlando, Heitor Villa-Lobos: A survey of his guitar music, in: (UFPr Arts Department) Electronic Musicological Review 1/1 (1996), www.cce.ufpr.br/~rem/REMv1.1/vol1.1/villa.html

Gladstone, Ralph J., An interview with Heitor Villa-Lobos, in: Guitar Review 21 (1957)

Heller, Alfred, The One-World "Style" of Villa-Lobos, in: Guitar Review 78 (1989)

Hodel, Brian, Grosse Fugue Villa-Lobos, in: Guitar Review 71 (1987)
ders., Villa-Lobos and the guitar, in: Guitar Review 72 (1988)

Ikeda, Alberto, Weine Cavaco, klage Cavaquinho!!!, in: Musices Aptatio 1989/90

Lima, Rossini Tavares de, Estudo sôbre a Viola, in: Revista Brasileira de Folclore 8/10 (1964)

Moser, Wolf, Verloren - Gefunden. Heitor Villa-Lobos und sein Werk, in: Musikblatt 14/118 (1987)

Muttray Kraus, Thomas, Entdeckerin Cristina Azuma, in: AkustikGitarre 7/2 (2000)

Peppercorn, Lisa M., Heitor Villa-Lobos, Leben und Werk des brasilianischen Komponisten, Zürich 1972

Pereira, Marco, Heitor Villa-Lobos. Sua obra para violão, BrasÌlia 1984

Plisson, Michel, Begleittext zu Hurtado, Cheo, Venezuela. Musique de l'Orénoque (Tonträger), Paris 1997

Pujol, Emilio, Significación de Joan Carlos Amat (1572-1642) en la historia de la guitarra, in: Anuario Musical 5 (1950)

Ramón y Rivera, Luis Felipe, Sobre el origen hispano de nuestro cuatro, in: Revista Musical de Venezuela 2/4 (1981)

Zdebel, Dirk, Bach und ich... Leben und Werk des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos, Teil 1, in: Gitarre und Laute 8/4 (1986); Teil 3, in: Gitarre und Laute 9/2 (1987)

 

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