Prof. Dr. A. A. Bispo, Dr. H. Hülskath (editores) e curadoria científica
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N° 63 (2000: 1)


 

Congresso Internacional Brasil-Europa 500 Anos
Internationaler Kongreß Brasil-Europa 500 Jahre

MÚSICA E VISÕES
MUSIK UND VISIONEN

Colonia, 3 a 7 de setembro de 1999
Köln, 3. bis 7. September 1999

Sob o patrocínio da Embaixada da República Federativa do Brasil
Unter der Schirmherrschaft der Botschaft der Föderativen Republik Brasilien

Akademie Brasil-Europa
ISMPS/IBEM

Pres. Dr. A. A. Bispo- Dir. Dr. H. Hülskath

em cooperação com/in Zusammenarbeit mit:

Deutsche Welle
Musikwissenschaftliches Institut der Universität zu Köln
Institut für hymnologische und musikethnologische Studien

 

ZUR BEDEUTUNG DES THEMAS
AUS MUSIKETHNOLOGISCHER SICHT

Prof. Dr. Rüdiger Schumacher
Musikwissenschaftliches Institut/Univ.Köln

 

Knüpft man an die einführenden Überlegungen im Programmheft dieses heute beginnenden Kongresses an, so eröffnet sich unwillkürlich eine zunächst vielleicht zusammenhanglos und verwirrend erscheinende Vielzahl möglicher Zugänge zur Thematik aus der Perspektive der Musikethnologie. Aus dieser Fülle greife ich einen Bereich heraus und versuche, ihn in wenigen Worten zu umreißen, der in den einzelnen Beiträgen der kommenden Tage zwar gewiss immer wieder anklingen wird, angesichts der Ausrichtung der konkreten Referate und ihrer Titel jedoch nicht ausgesprochen thematisiert erscheint. Ich meine hier die Reflexion musikethnologischer Forschungstendenzen des 20. Jahrhunderts, den kritischen Rückblick auf zentrale, die Theorie und Methode dieser wissenschaftlichen Disziplin prägende Ideen und Vorstellungen - im emphatischen Sinne eben wissenschaftliche Visionen. Man mag mir verzeihen, dass mich die zu Gebote stehende Kürze einleitender Worte zugleich auch zu einer sachlich kaum vertretbaren Verkürzung der Perspektive, zu Vereinfachung und Zuspitzung der sprachlichen Präsentation zwingt, bei der ein möglichst alle Argumente und gedanklichen Differenzierungen abwägender Wissenschaftler in der Regel ein unwohles Gefühl nicht verhehlen kann.

Im Bewusstsein einer solchen unumgänglichen Vereinfachung und Verkürzung beschränke ich mich auf drei Ideenkomplexe, die zu unterscheidlichen Zeiten den Gang der musikethnologischen Forschung im 20. Jahrhundert befruchtet und bestimmt haben. Den ersten Ideenkomplex könnte man mit dem Stichwort Evolutionismus versehen: "Brasil-Europa" - dieses Begriffspaar, mag man es nun als Kontrast oder Verbindung interpretieren - lädt unwillkürlich zur Methode des Vergleichens ein. Der Gegensatz des Unbekannten, Fremden zum Eigenen, Wohlbekannten lieferte denn auch am ausgehenden 19. Jahrhundert, dem Zenit des Kolonialzeitalters, die treibende Kraft für die Entstehung und Entfaltung einer Teildisziplin der Musikwissenschaft, die sich "Vergleichende Musikwissenschaft" nannte und sich - im Anschluss an die unumgängliche Korrektur einiger fragwürdiger Konzepte - teilweise noch heute als Komparatistik versteht. Protagonisten dieser neuen Forschungsrichtung entwickelten binnen weniger Jahre unter Anwendung naturwissenschaftlich inspirierter Arbeitsverfahren des Messens und Zählens ein äußerst wertvolles, in seinen Grundzügen durchaus noch heute hilfreiches und relevantes Begriffs- und Methoden-Instrumentarium zur Analyse von Tondokumenten, die meist andere - Händler, Kolonialbeamte, Missionare und Völkerkundler - von ihren Reisen in die entlegensten Winkel unseres Globus mitgebracht hatten. Um die Jahrhundertwende standen in der jungen Vergleichenden Musikwissenschaft allerdings zunächst Fragen nach dem Ursprung von Musik im Vordergrund. Man untersuchte die Musik fremder Kulturen nicht so sehr aus einer Überzeugung ihres eigenen Wertes heraus. Vielmehr glaubte man, in diesen so genannten "primitiven" Völkern "Urvölker" oder "Ur-Kulturen" erkennen zu dürfen, deren Untersuchung Rückschlüsse auf den Ursprung der eigenen Kultur zuließ. Erich Moritz von Hornbostel, einer der bedeutendsten Pioniere der Vergleichenden Musikwissenschaft, brachte diesen Gedanken in seinem programmatischen Vortrag über "Die Probleme der Vergleichenden Musikwissenschaft" deutlich zum Ausdruck:
"Wir dürfen, wenn auch mit einiger Vorsicht, den Zustand ’primitiver’ Völker mit früheren Stufen unserer eigenen Kultur in Parallele setzen. Dann würden wir auch in primitiver Musik Analogien zu suchen haben zu der Tonkunst unserer Vorfahren. (…) Je umfangreicher das Tatsachenmaterial wird, das wir der Vergleichung unterwerfen, umso eher dürfen wir hoffen, aus dem Entwicklungsgang auch auf die Uranfänge der Musik schließen zu können. (…)"
"Aber unsere Wünsche fliegen noch höher: wir möchten die fernste, dunkelste Vergangenheit entschleiern und möchten aus der Fülle des Gegenwärtigen das Zeitlose, Allgemeine herausschälen; mit anderen Worten: wir wollen die entwicklungsgeschichtlichen und die allgemein-ästhetischen Grundlagen der Tonkunst kennen lernen."

Angesichts solcher recht subjektiven Spekulationen, die sich oft weniger an einem hinreichenden Fundament im Tatsachenmaterial als an "Glaubensbekenntnissen" und Wunschvorstellungen orientierten, wurde schon bald - insbesondere in angelsächsischen und anglo-amerikanischen Wissenschaftskreisen - der Ruf nach intensiver empirischer Feldforschung laut. Ziel dieser neuen Forschungsrichtung war nicht mehr die Erklärung der Ursprünge kultureller Unterschiede und Ähnlichkeiten, sondern das analytische Erfassen und Beschreiben der Funktionen von Bräuchen und kulturellen Institutionen. Mit der für lange Zeit bedauerlicherweise radikalen Aufgabe des methodischen Vergleichens wurde unter dieser Perspektive auch die Fachbezeichnung "Vergleichende Musikwissenschaft" zunehmend obsolet, und an ihre Stelle trat der Begriff der "Musikethnologie". Die zentrale Fragestellung dieser neuen Forschungsrichtung, der - stark vereinfachend - das Etikett des Funktionalismus angeheftet worden ist, ist die Frage nach der Absicht und dem Sinn von Musik: Was tut und bewirkt Musik in der jeweils konkreten menschlichen Kultur und für diese? Die genaue Beobachtung des Gebrauchs von Musik in bestimmten Situationszusammenhängen, der habituellen Praxis der Musik, lässt nach Funktionen fragen, die sich auf die Gründe für diese Situationen und auf Zwecke und Absichten beziehen. Dass bei einem solcherart ausgerichteten Erkenntnisinteresse die Untersuchung der Musik als klingendes Phänomen eher in den Hintergrund tritt, liegt auf der Hand. Wichtiger erscheint die kulturelle Konzeption, die den Rahmen bildet, in dem Musik in die jeweilige Gesellschaft eingeordnet ist. Aus diesem keineswegs homogenen Vorstellungskomplex erwachsen die verschiedenen Verhaltensweisen, die letztendlich erst den konkreten musikalischen Klang gleichsam als ein "Produkt" hervorbringen.

Ein solcher bereits sehr stark auf das Selbstverständnis der jeweils untersuchten Musikkultur ausgerichteter Forschungsansatz hat nun die Erkenntnis verstärkt, dass kein Musikethnologe völlig unvoreingenommen an die Beobachtung fremder Musikkulturen herangehen kann; d.h. eine absolute Objektivität wissenschaftlicher Forschung wird es daher niemals geben können, eine im Grunde genommen banale Erkenntnis: Es ist - sehr vereinfacht ausgedrückt - z.B. ein großer Unterschied, ob der Musikethnologe dem Volk, dessen Musikleben er erforscht, selbst angehört oder aber als Außenstehender die Musik einer bestimmten Kultur beschreibt. Dementsprechend gilt, dass musikalische Phänomene, ebenso wie Vorstellungen und menschliche Verhaltensweisen, aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden können: aus der Perspektive der Betroffenen selbst und aus der Perspektive des Beobachters. Beide Betrachtungsweisen, die man mit den aus der Sprachwissenschaft abgeleiteten Begriffen emisch bzw. etisch bezeichnet, erlauben wissenschaftlich relevante und objektiv durchaus erkenntnisreiche Darstellungen von Musiksystemen. Unter dieser Voraussetzung ist also die Beschreibung des Beobachteten immer nur eine von vielen möglichen Interpretationen eines Ereignisses durch den Musikethnologen.

Meine Damen und Herren: Ich habe versucht, in wenigen Worten drei in der musikethnologischen Forschung des 20. Jahrhunderts herausragende Ideenkomplexe ansatzweise zu skizzieren. Es bleibt abzuwarten, wieweit solche gleichsam erkenntnistheoretischen Visionen der musikalischen Erforschung im Spannungsfeld des Fremden und des Eigenen ihre Wirksamkeit und Entwicklungsfähigkeit über unser zu Ende gehendes Jahrhundert hinaus auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der Zukunft erweisen werden.

 

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Texto sem notas, bibliografia, exemplos musicais e ilustrações.
Artigos completos nos Anais do Congresso "Brasil-Europa 500 Anos: Música e Visões".

Text ohne Anmerkungen, Bibliographie, Notenbeispiele und Illustrationen.
Vollständige Beiträge im Kongressbericht "Brasil-Europa 500 Jahre: Musik und Visionen".

 

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